Inhaltswarnung: Erwähnung von Queermisia und Rassismus
Dieser Essay stammt aus meinem Essayband »Diversity in der Literatur«
Zunächst einmal: Was ist das eigentlich?
Fangen wir mit einem fiktiven Beispiel an. Susanne ist eine deutsche Autorin. Sie ist weiß, heterosexuell, cisgender und lebt in der Mittelschicht, ist auch darin aufgewachsen. Susanne möchte gern einen Roman über Naomi schreiben, eine Schwarze Frau in Deutschland, eine Afrodeutsche, die lesbisch und cisgender ist und ebenfalls zur Mittelschicht zählt. Die einzigen Lebenswelten, die Susanne und ihre fiktive Naomi gemeinsam haben: Sie sind beide cisgender Frauen und in der Mittelschicht heimisch. Aber Susanne weiß nicht, wie es sich anfühlt und was es mit sich bringt, eine Afrodeutsche zu sein. Sie hat auch keine Lebenserfahrung als lesbische Frau.
Nun könnte Susanne einfach drauflos schreiben und dabei respektvoll mit der fiktiven Naomi umgehen. Aber ihr Bild dieser Frau wäre sehr ausgedacht und wenig an den Lebenswelten lesbischer, cisgender afrodeutscher Frauen orientiert. Vielleicht kennt Susanne eine lesbische Afrodeutsche und hat sich intensiv mit ihr ausgetauscht. Das wäre ganz klar ein Vorteil für ihr schriftstellerisches Projekt. Vielleicht hat sie Own-Voices-Romane oder Artikel von lesbischen afrodeutschen Frauen gelesen oder Podcasts gehört oder auf andere Weise die entsprechenden Lebenswelten recherchiert. Aber ihre fiktive Naomi und deren Leben mag zwar ähnlich sein, aber es ist immer noch eine ausgedachte Figur, die gewissermaßen durch eine „weiße Brille” gesehen wird.
Und hier kommt Sensitivity Reading ins Spiel. Susanne könnte sich an eine lesbische Schwarze Frau wenden, die bereit ist, ihren Roman über Naomi zu lesen. Sie könnte sich auch zum einen an eine Schwarze Frau und zum anderen an eine lesbische Frau wenden, die bereit sind, ein Sensitivity Reading zu übernehmen.
Beim Sensitivity Reading werden Texte testgelesen, mit einem bestimmten Fokus. Wer über marginalisierte Menschen schreibt, mit deren Lebenswelt aber keine eigene Erfahrung hat, für den sind Sensitivity Readings eine gute Möglichkeit, auf möglicherweise verletzende Formulierungen und Stereotypen über diese marginalisierten Menschen aufmerksam gemacht zu werden. So etwas kann sich übrigens auch ganz ohne böse Absicht in einen Text schleichen, einfach aus Unwissen – das gilt bei weißen Menschen zum Beispiel für unabsichtlich rassistische Aussagen.
Sensitivity Reader zählen selbst zu einer oder mehreren marginalisierten Gruppen, z.B. Menschen mit Behinderung, queere (LGBTIAQ*) Menschen, BI_PoC (Black, Indigenous, People of Color), Menschen mit Neurodiversität, einer psychischen oder chronischen Erkrankung, Menschen, die in Armut leben oder noch andere. Sensitivity Reader sind somit gewissermaßen Expert*innen für die entsprechenden Lebenswelten und -erfahrungen. Das Beispiel oben mit Naomi ist intersektional – das bedeutet, diese Figur ist zweifach marginalisiert, als Schwarze Frau und als lesbische Frau.
Das heißt natürlich nicht, dass ein Sensitivity Reader allein für die gesamten Lebenserfahrungen aller aus seiner marginalisierten Gruppe sprechen kann. Aber Sensitivity Reading kann zumindest Tendenzen aufzeigen und gröbste Fehler oder Probleme in der Beschreibung marginalisierter Menschen ausmerzen.
Wozu dient es nicht?
Entgegen so manchem Vorurteil gegenüber Sensitivity Reading ist es keine Zensur und will auch nicht die Freiheit der Kunst beschneiden. Ganz im Gegenteil hilft Sensitivity Reading dabei, authentischer, vorurteilsfreier und lebensechter über Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und/oder aus marginalisierten Gruppen zu schreiben und das sollte doch eigentlich im Interesse aller Autor*innen sein.
Warum sollte man Sensitivity Reading nutzen?
Das hat mehrere Gründe. Es sensibilisiert zum einen für einen Umgang mit nicht-diskriminierender, nicht-herabwürdigender, inklusiver Sprache. Das geht übrigens auch, ohne dass man um die Freiheit der Kunst bangen muss. Ein weiterer wichtiger Grund: Menschen aus marginalisierten Gruppen, die mithilfe von einem Sensitivity Reading bearbeitete Texte lesen, werden sich darin wahrscheinlich positiver und authentischer repräsentiert finden, in Figuren, die ihrer marginalisierten Gruppe angehören.
Sprache hat einen großen Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen. Vorurteile, Diskriminierung und Stereotypen finden nicht nur auf dem Papier statt, wenn wir sie lesen, sie finden auch einen Weg in unsere Köpfe, wenn wir immer wieder darüber lesen. Das zeigen auch psychologische Studien. (1)
Sensitivity Readings können letztendlich nicht nur helfen, Vorurteile, Diskriminierungen und Stereotypen in Texten zu vermindern, sondern auch in den Köpfen der Lesenden abzubauen, weil sie helfen, authentischere Figuren abseits von Vorurteilen und Stereotypen zu erschaffen.
Meine eigenen Erfahrungen mit Sensitivity Reading
Ich habe selbst ein Sensitivity Reading für eine andere Autorin gemacht, das war für einen großen Publikumsverlag. Die Zusammenarbeit lief über das Lektorat, war sehr professionell und freundlich, außerdem wurde mir meine Tätigkeit auch mit einem fest vorgegebenen, nicht verhandelbaren Betrag vergütet. Ob alle meine Anmerkungen oder die mir wichtigsten umgesetzt wurden, weiß ich allerdings noch nicht, da ich das veröffentlichte Buch noch nicht gelesen habe. Und letztendlich liegt diese Entscheidung natürlich beim Verlag.
Als Autorin habe ich mehrfach mit Sensitivity Readern zusammengearbeitet. Bei zwei Sensitivity Readern lief die Zusammenarbeit reibungslos. In einem Fall hatte der Sensitivity Reader ganz andere Vorstellungen als ich zur Geschichte, was einige inhaltliche Fragen betraf. Dieser Reader ist selbst Autor und hätte meine Ausgangsbasis der Geschichte vielleicht lieber anders umgesetzt.
Aber Sensitivity Reading ist in der Regel kein inhaltliches Lektorat. Sensitivity Reader helfen einem eher dabei, auf problematische Beschreibungen und Formulierungen zu verzichten. Ihre Aufgabe ist es nicht, Geschichten komplett inhaltlich zu verändern – es sei denn, dass sich darin ein sehr problematisches Handlungsmuster befindet, das beispielsweise auf rassistischen oder queerfeindlichen Stereotypen beruht. Ein sehr negatives Trope ist beispielsweise Bury your gays (2), das so oft in der Vergangenheit eingesetzt wurde, dass manche Rezensent*innen von Filmen, Büchern etc. extra hervorheben, wenn dieses Trope nicht verwendet wird.
In einem anderen Fall hatte ich Pech, was die Umsetzung betraf: Zuerst sagte mir eine Sensitivity Readerin ab wegen zu starker Arbeitsbelastung im Brotjob, ein anderer Sensitivity Reader ließ mich mehrere Monate auf sein Feedback warten, da er ebenfalls viel zu tun hatte. Das bringt mich allerdings zu einem wichtigen Punkt: Sensitivity Reading ist nicht unbedingt eine berufliche Tätigkeit – manche Sensitivity Reader übernehmen diese Tätigkeit in ihrer Freizeit und es kann sein, dass jemand wenig Zeit dafür erübrigen kann. Deshalb ist es gut, wenn beide Seiten, also Autor*innen und Sensitivity Reader, sich gegenseitig absprechen, auch wenn möglich, über den zeitlichen Rahmen. Und auch über eine mögliche Vergütung oder andere Gegenleistungen sollte man im Vorfeld sprechen, damit es nicht zu Unstimmigkeiten oder Enttäuschungen kommt.
Fußnoten
(1) Einige Studien zu diesem Thema:
https://numerons.files.wordpress.com/2012/04/14psychology-of-entertainment-media.pdf
(2)
Bury your gays ist ein Handlungsmuster, bei denen die einzigen queeren Charaktere (oder der einzige queere Charakter) in einem Buch, Film, etc. sterben, oft auf dramatische Weise, während die heterosexuellen Charaktere überleben.
Hier eine sehr empfehlenswerte Website:
Ein weiterer Blogbeitrag, in dem ich auch auf Sensitivity Reading eingehe: »Was darf ich denn überhaupt noch schreiben?«
https://amalia-zeichnerin.net/was-darf-ich-denn-ueberhaupt-noch-schreiben/
Eine Podcast-Folge, in der ich zum Thema Sensitivity Reading interviewt wurde:
https://dernerdigetrashtalk.podigee.io/b44-sensitivity-reading4-sensitivity-reading