Was ist bitte „normal“?

Abbildung: bs-matsunaga

Kürzlich fragte ein Mann auf Twitter, warum er denn das Label „cisgender“ haben müsse. Er wolle kein „Cis-Mann” sein. Daraufhin entspann sich eine längere Diskussion.

U.a. schrieb der Autor F.B. Knauder:
Aber du bist es halt. Und warum sollte es ein Wort für trans geben aber nicht für cis? Du brauchst das, weil sonst heißt cis quasi „normal“ und das ist viel schlimmer. In other words: Wir brauchen Schubladen, damit wir nicht Sachen als normal bezeichnen.”

Ich schrieb dazu:

Gilt übrigens in ähnlicher Weise auch für Hautfarben. Manche Leute wollen nichts davon wissen, dass sie weiß sind. Weil das für sie „normal” ist. Weil das für sie der Standard ist. Weil sie Menschen mit anderer Hautfarbe immer als „anders” betrachten.

Den Ausdruck cisgender gibt es übrigens seit 1991, um auszudrücken, dass das als „normal“ unterstellte Zusammenfallen von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität keine Selbstverständlichkeit ist. Kann man hier nachlesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Cisgender

Was ist bitte normal?
Ihr ahnt es vielleicht schon. Das ist eine rhetorische Frage. Es gibt kein „normal“. Alles, wirklich alles ist relativ. Ja, es gibt Menschen, die sind heterosexuell, cisgender, allosexuell, dyasexuell, neurotypisch, ohne Behinderungen und weiß*. Diese Menschen bilden in Europa die Mehrheit. Sie genießen allein aufgrund dieser Eigenschaften Privilegien, die marginalisierte Menschen** nicht haben. Aber bedeutet das, dass sie normal sind? Die Norm? Der Standard?

Das zu behaupten, würde im Gegenzug bedeuten, dass alle anderen nicht normal sind. Dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Weil sie nicht zu dieser „Norm” gehören. Und ich glaube, niemand, der sich als Menschenfreund sieht, möchte andere Menschen so eingrenzen und damit ausgrenzen, denn eine solche Zuschreibung ist verletzend und herabwürdigend.

Und deshalb brauchen wir Schubladen. Sogar ziemlich viele. Um bei allem, was wir gemeinsam haben als Menschen, auch auf die Unterschiede zwischen uns aufmerksam machen zu können.

Es ist doch auch so, dass wir in vielen anderen Bereichen ebenfalls unterschiedlich sind. Wir alle haben unterschiedliche Interessen und Vorlieben und benennen diese auch. Niemand verlangt von uns, dass wir das nicht tun. Der eine mag dieses, die andere jenes, sier verträgt dieses nicht, xier freut sich jedes Mal über das und so weiter. Mit anderen Worten: Wir sind alle Menschen. Und wir sind alle unterschiedlich.

Hinzu kommt: Viele Menschen denken sehr binär. Schwarz. Weiß. Ja. Nein. Frau. Mann. Sie denken gern in absoluten Gegensätzen. So sind die meisten von uns aufgewachsen und geprägt worden. Was viele dabei nicht sehen: Es gibt auch vieles, das sich auf einem Spektrum bewegt. Die Kinsey Skala ist dafür ein Beispiel. Alfred Charles Kinsey war ein Sexualforscher, der in seinen Studien herausfand, dass sich die Sexualität vieler Menschen auf einem Spektrum bewegt, das z.B. irgendwo zwischen absoluter Heterosexualität und absoluter Homosexualität liegt. Asexualität und Grau-Asexualität zum Beispiel sind oft ebenfalls in einem Spektrum angesiedelt.

Ähnliches gilt auch für nonbinäre Menschen,z.B. Menschen, die gender-fluid oder genderqueer sind. Ihr Gender sprengt die üblichen binären Vorstellungen. Ihr Gender ist also ebenfalls auf einem Spektrum angesiedelt, und nicht an einem von zwei Polen. Menschen, denen das nicht aus eigener Lebenserfahrung vertraut ist, mag das exzentrisch, ungewöhnlich oder sogar bedrohlich erscheinen, weil dadurch ihr eigenes binäres Verständnis von Gender infrage gestellt wird. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es die Lebenswelt und Realität nonbinärer Menschen ist.

Betrachten wir es auch einmal so: Die Menschheit hat in ihrer jahrtausendelangen Existenz für alles mögliche Schubladen, Namen, Zuordnungen etc. gefunden, z.B. in den vielen Wissenschaften. Und zwar nicht nur grobe Überkategorien, sondern auch viele, viele mehr. Es gibt auch in der Literatur unzählige Gattungen, die Genres und Subgenres.

Warum sollten wir dann ausgerechnet bei uns selbst, in all unserer Vielfalt (und der immer größeren Freiheit, die wir als Individuen haben, im Vergleich zu früheren Epochen) auf Schubladen und Labels verzichten, die unsere menschliche Vielfalt genauer und präziser abbilden?

* allosexuell: Das Gegenteil von asexuell
dyasexuell: Das Gegenteil von intersexuell
cisgender: Das Gegenteil von transgender
neurotypisch: Das Gegenteil von neurodivers

** über marginalisierte Menschen habe ich u.a. diesen Beitrag geschrieben:
https://amalia-zeichnerin.net/die-welt-ist-gemein-zu-marginalisierten-menschen/

Die Welt ist gemein zu marginalisierten Menschen

Überarbeitet im August 2024

Inhaltshinweise zu diesem Artikel
Erwähnung von: Queerfeindlichkeit, Rassismus, Ableismus, Suizid, Diskriminierung von marginalisierten Menschen, Gewalt gegen marginalisierte Menschen, Misgendering, psychische Erkrankungen, Neurodivergenz
, Islamfeindlichkeit, Mobbing, Bodyshaming

Es gibt Leute, die von marginalisierten Menschen sagen, diese würden immer jammern und behaupten, die Welt sei so gemein zu ihnen. Gerade heute las ich solch einen Kommentar in einem sozialen Netzwerk.

Dieses sogenannte „Jammern” hat seinen Grund und ist in meinen Augen gerechtfertigt. Denn die Welt ist gemein zu marginalisierten Menschen.

Lasst mich euch mehr darüber erzählen…

People of Color, Black People of Color (oft abgekürzt Bl_PoC), Migrant*innen, Menschen mit Migrationshintergrund, sie erleben ständig Alltagsrassismus. Der ist vielleicht nicht mal beabsichtigt oder tarnt sich gar als nettgemeintes Kompliment, ist aber dennoch Rassismus. Sie erleben auch Rassismus bei der Jobsuche, der Wohnungssuche, bei Ausweiskontrollen und vielem mehr. Manche werden Opfer von verbaler oder auch körperlicher Gewalt.

Muslimische Frauen werden, wenn sie Kopftuch tragen, in vielen beruflichen und auch anderen Bereichen, diskriminiert.

Queere (LGBTIAQ*) Menschen müssen sich immer wieder in ihrem Leben entscheiden, ob sie sich outen, wo und wie und vor wem, oder lieber doch nicht, um ihre Sicherheit oder einfach ihr Wohlbefinden nicht zu gefährden. Für manche ist es eine Strategie, als heterosexuell oder cisgender durchgehen zu können, um beides nicht in Gefahr zu bringen. Manche können oder wollen diese Art von Versteckspiel nicht. Oftmals ist selbst eine simple Zuneigungsbezeugung zu gleichgeschlechtlichen Partner*innen in der Öffentlichkeit, wie Händehalten oder ein einfacher Kuss, etwas, das manche andere Menschen als Provokation betrachten und mit Aggression bis hin zu körperlicher Gewalt beantworten.

Genderqueere oder nonbinäre Menschen müssen immer wieder erklären, dass sie weder Männer noch Frauen sind, wenn sie als das eine oder andere von ihren Mitmenschen gelesen werden. Oft müssen sie immer wieder an ihre Pronomen erinnern – was von manchen Menschen vehement abgelehnt wird, so dass es für betroffene Personen zu schmerzhaftem Misgendering kommt. Dabei sind diese Pronomen häufig ein wichtiger Teil ihren genderqueeren Identität.

Misgendering, das erleben auch trans Menschen immer wieder. Sie müssen für die Transition, wenn sie diese erreichen wollen, einen langen und steinigen Weg durch Ämter, Behörden, Therapiepraxen etc. gehen, zumal das entsprechende Transsexuellengesetz noch immer unzureichend ist. Das kostet eine Menge Kraft.

Die Identität von trans Menschen werden außerdem von TERFs (trans excluding radical feminists) angezweifelt, z.B. werden sie mit Argumenten des sogenannten Gender Essentialismus in Frage gestellt.

Trans Menschen sind wie viele queere Menschen oft außerdem Gewalt ausgesetzt, bis hin zu Mord. Deshalb gibt es jährlich den Trans Remembrance Day, der an die Opfer von Transfeindlichkeit erinnert.

Viele queere Menschen werden strukturell diskriminiert, z.B. wenn es um Fragen des Familienrechts geht, um Namens- und Personenstandsänderungen und noch einiges mehr.

Menschen mit Behinderungen werden in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens nicht „mitgedacht”, was auch eine Form struktureller Diskriminierung sein kann – überall gibt es Barrieren, sei es für Menschen mit Gehbehinderungen, Gehörlöse, Menschen mit Sehbehinderung, Lernbehinderungen, geistige Behinderungen oder noch andere.
Entsprechend haben diese Menschen in ihrem Alltag immer wieder mit allerhand Problemen zu kämpfen, die sich viele Menschen aus der Mehrheit der Bevölkerung kaum vorstellen können. Sie erleben außerdem oft Ableismus, manche von ihnen tagtäglich.

Menschen mit Neurodivergenz (z.B. Autismus, ADHS oder andere) erleben oft Probleme im Umgang mit anderen Menschen, und Alltagssituationen, die für neurotypische Leute vollkommen einfach sind, erleben diese mitunter als sehr stressig, z.B. mit einer starken Reizüberflutung oder anderen Wahrnehmung und Empfindungen, die sich mitunter deutlich von denen neurotypischer Menschen entscheiden.

Menschen mit chronischen Erkrankungen oder auch chronischen psychischen Erkrankungen kämpfen häufig ihr ganzes Leben lang gegen die Auswirkungen ihrer Erkrankung an, was unglaublich viel Kraft kosten kann. Zugleich werden sie oft von ihrem Umfeld oder von Arbeitgeber*innen stigmatisiert, falls sie überhaupt längerfristig arbeiten können. Manche von ihnen leben mit ständigen Schmerzen, körperlicher oder seelischer Art.

Menschen, die offen einer heidnischen Religion (Paganismus) anhängen, werden oft belächelt, lächerlich gemacht oder gar von manchen Menschen mit anderer Religionszugehörigkeit einer schweren Sünde bezichtigt, als ob ihre Glaubensrichtung nicht ebenso valide sei wie eine der großen Weltreligionen.

Menschen, die mit Aussehen oder Körpertyp nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen, erleben Bodyshaming, werden gemobbt, beschimpft, ausgelacht …

Und das sind bei weitem nicht alle marginalisierten Gruppen, die es gibt. Denken wir z.B. mal an obdachlose Menschen, an Menschen in dauerhaft prekären Lebensverhältnissen oder Alleinerziehende, oder indigene Menschen, Sinti und Roma (bzw. gegendert: Sinti*zze und Rom*nja) und noch viele mehr. Und von mehrfach Marginalisierten fange ich jetzt mal nicht an.

Eines möchte ich betonen: All solche Formen von Diskriminierungen, von Mikroaggressionen im Alltag, Vorurteile oder auch offen feindseligem Verhalten, das erleben viele marginalisierte Menschen nicht nur ein paar Mal, sondern immer wieder und wieder. Nicht jeder Mensch kann oder will das alles einfach „wegstecken“, ignorieren, weglächeln oder einfach schweigend erdulden.

Diskriminierung, Vorurteile, Hatespeech und feindliches Verhalten, in ihren vielseitigen Ausprägungen, verletzen, machen wütend, traurig, enttäuschen, lassen mitunter Zweifel an sich selbst aufkommen, an der eigenen Identität, oder sind auf andere Weise destruktiv.

Ich lade dich zu einem Gedankenspiel ein.
Nimm einmal an, du bist in einer vollkommen privilegierten Position.
Das heißt in diesem Fall: Du bist Weiß. Männlich und cisgender. Nicht intersexuell. Heterosexuell. Christlich oder konfessionslos. Außerdem hast du Idealgewicht, bist neurotypisch und psychisch gesund.
Und nun geht es weiter …
Jeden Tag sagen Leute Dinge zu dir, die du nicht mit deinem Selbstbild in Einklang bringen kannst.
„Du bist krank.“
„Du bist pervers.“
„Dein Hautton ist zu hell.“
„Mit deiner Figur stimmt etwas nicht.“
Sie mögen es nicht, wenn du deine Freundin küsst oder mit ihr Hände hältst. Das solltest du besser sein lassen, sagen sie dir, sonst kriegst du Ärger. Oder Prügel.
Sie sagen: „Deine Religion ist nicht die wahre.“ Oder: Ihre Religion sei die einzig wahre.
Sie sagen verletzende Dinge über deine Männlichkeit, über deine Art, dich zu zeigen oder die Art, wie du dich bewegst oder kleidest. Sie lästern über deine Herkunft.

Vielleicht bist du erst irritierst. Fängst an, dagegen anzureden. Oder du schweigst und wunderst dich nur. Aber die Leute hören nicht auf, diese Dinge über dich zu sagen, hinter deinem Rücken (aber so, dass du es hören kannst) oder dir ins Gesicht. Und sie hören nicht damit auf. So geht das Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Wie würdest du dich damit auf Dauer fühlen? Was würdest du tun?

Nicht jede Person hat ihr Leben lang die Resilienz, ständige Diskriminierungen, verletzende Bemerkungen oder gar physische Gewalt unbeschadet an Körper, Geist und Seele zu überstehen. Wie kann man da als marginalisierter Mensch anders reagieren als zu „jammern“?

Übrigens: Die meisten marginalisierten Gruppen haben eines gemeinsam: Die Suizidraten dieser Gruppen sind, statistisch gesehen, um einiges höher als in der nicht-marginalisierten Mehrheit der Bevölkerung. Viele marginalisierten Menschen erkranken auch häufiger an psychischen Erkrankungen.

Und noch etwas: In Social Media lese ich immer wieder, dass manche marginalisierte Menschen keine Lust haben, wieder und wieder den „Erklärbär” für ihre nicht-marginalisierten Mitmenschen zu spielen – um zu erklären, wie sich dieses oder jenes in ihrer marginalisierten Gruppe verhält oder bei ihnen persönlich, oder was für Probleme sie in ihrem Leben haben. Denn auch dieses ständige Erklären kostet Kraft.

Und angesichts all dessen ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass sich manche dieser Menschen lieber in einen „safe space” (oder „safer space“, wie manche mittlerweile sagen) zurückziehen und unter ihresgleichen bleiben, weil sie dort mehr Verständnis finden, als bei vielen Nicht-Marginalisierten.

Die Welt ist gemein zu marginalisierten Menschen. Und es wäre schön, wenn sie es ein bisschen weniger wäre.

Einige weitere Texte:

Über rassistische Diskriminierung in der Arbeitswelt
https://www.zeit.de/arbeit/2020-01/rassismus-job-arbeitsplatz-alltag-diskriminierung-kollegen

Über verschiedene Diskriminierungsformen, darunter auch strukturelle und institutionelle:
https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/diskriminierungsverbot/konzept/formen/?gclid=Cj0KCQiA0ZHwBRCRARIsAK0Tr-oaR9hBNHMp53rPcxnUa8ULqmwtMvtOJiFvbiYgGY20fnWxM4cFFS0aAghmEALw_wcB

Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion psychisch kranker Menschen https://www.kerbe.info/files/Kerbe_ausgaben/2010-10-22_Kerbe4_10-Artikel-Kardorff.pdf

Studie: Fast 40 Prozent der Europäer sind psychisch krank
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/studie-fast-40-prozent-der-europaeer-sind-psychisch-krank-a-784400.html

Was man gegen Alltagsrassismus tun kann
https://www.fluter.de/was-man-gegen-alltagsrassismus-machen-kann

Transidentität – ein Erfahrungsbericht
https://ze.tt/transidentitaet-wie-viktoria-nach-ihrem-zwangsouting-ihre-familie-verlor/

Über transidente Kinder
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-05/transidente-kinder-trans-maedchen-forschung

Transfeindlichkeit unter Frauen: Besorgte Feministinnen
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/transfeindlichkeit-unter-frauen-besorgte-feministinnen/24182500.html

Ein Kummerkastenbrief zum Thema Queerfeindlichkeit
https://queer-lexikon.net/tag/queerfeindlichkeit/

Ein rassismuskritischer Leitfaden
https://www.elina-marmer.com/wp-content/uploads/2015/03/IMAFREDU-Rassismuskritischer-Leiftaden_Web_barrierefrei-NEU.pdf

Der Kopftuchstreit
https://de.wikipedia.org/wiki/Kopftuchstreit

Studie zur Diskriminierung muslimischer Frau auf dem Arbeitsmarkt
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-09/arbeitsmarkt-kopftuch-musliminnen-bewerbung-diskriminierung-studie

Wie queere Menschen diskriminiert werden
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/alltag-von-homosexuellen-wie-queere-menschen-in-berlin-diskriminiert-werden/22810292.html

Minderheitenstress – so ungesund ist unsere Gesellschaft für queere Menschen
https://www.vice.com/de/article/bvgvyw/minderheitenstress-so-ungesund-ist-unsere-gesellschaft-fur-queere-menschen

Jeder vierte Migrant beklagt alltägliche Diskriminierung
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-08/diskriminierung-schulen-universitaeten-migranten

Der Mediendienst Integration über Diskriminierung:
https://mediendienst-integration.de/desintegration/diskriminierung.html