Ein persönlicher Beitrag zum Tag der mentalen Gesundheit



Inhaltswarnungen: psychische Erkrankung, bipolare Störung, suizidale Gedanken, Suizid, Depression, Manie, Psychose

Lesezeit: ca. 12 Minuten

Teile dieses Textes habe ich bereits im vergangenen Jahr veröffentlicht, anlässlich der Aktion „Seelenoktober“ auf Facebook.

Am 10. Oktober ist jedes Jahr Tag der mentalen Gesundheit (Mental Health Day). Dieses Thema geht mir schon seit rund zwei Jahrzehnten nah, denn ich habe die bipolare Störung. Was das ist und was für Erfahrungen ich damit gemacht habe, davon handelt dieser Beitrag.

Zuerst einmal zum Begriff: Früher wurde dies als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet. Manche Betroffene sprechen heute gern von bipolarer Neurodivergenz oder Neurodiversität (ähnliches gilt auch z.B. für AD(H)S, Asperger Syndrom, Autismus). Mir ist dieser Begriff übrigens auch lieber als „Störung”, weil letzteres zu sehr an das Schimpfwort „gestört” erinnert. Der Begriff „Neurodivergenz” soll das Phänomen zum einen aus einem ausschließlich medizinischen Blickwinkel lösen, zum anderen zeigen, dass das Gehirn der entsprechenden Personen gewissermaßen dauerhaft anders funktioniert als bei neurotypischen Menschen. Von einer Neurodivergenz zu sprechen, macht auch insofern Sinn, da die Erkrankung als unheilbar gilt. Mit Therapien und passenden Medikamenten kann man im günstigsten Fall lernen, damit langfristig zu leben.

Die Erkrankung äußert sich sehr unterschiedlich, es gibt verschiedene Formen, darunter das sogenannte „Rapid Cycling”, bei dem sich depressive und manische Phasen sehr schnell ablösen. Bei anderen Menschen sind eher die manischen Phasen ausgeprägt, bei einigen stehen die depressiven im Vordergrund. Übergänge zu anderen psychischen Erkrankungen sind hier oft fließend, bzw. manche Menschen mit der bipolaren Störung haben auch noch zusätzliche psychiatrische Diagnosen. Einige mit dieser Erkrankung neigen zu Suizidalität, andere eher nicht. Ich gehöre zu letzteren, auch wenn mir suizidale Gedanken ebenfalls nicht fremd sind.

Es gibt übrigens mehrere Kunstschaffende, die diese Erkrankung haben/hatten und offen darüber sprechen/sprachen. Dazu zählen die Musikerinnen und Singer-Songwriterinnen Emilie Autumn, Macy Gray, Mary Lambert (die darüber auch in ihrem Song „Secrets” offen singt), Maria Carey, Stephen Fry (u.a. tätig als Schauspieler, Autor, Quizshow-Host), die Schauspielerinnen Carrie Fisher und Linda Hamilton, der Schauspieler Richard Dreyfuss, Demi Lovato (Schauspieler*in, Sänger*in, Autor*in), die Musiker*innen und Singer-Songwriter*innen Lou Reed und Amy Winehouse, der Comedian, Schauspieler, Radio-Host, Aktivist und Autor Russell Brand, der Künstler und Fotograf David LaChapelle und noch viele andere.

Mary Lambert: „Secrets“

Auch einige bekannte historische Persönlichkeiten litten höchstwahrscheinlich unter dieser Erkrankung, darunter Ernest Hemingway, Vincent van Gogh, Zelda Fitzgerald, Ada Lovelace, Gustav Mahler, Virginia Woolf, möglicherweise auch Sylvia Plath und Edgar Allan Poe.

Ich war jahrelang in Psychotherapie, früher auch mit Klinikaufenthalten, und ich nehme Medikamente. Aber auch das alles ist kein Heilmittel. Wenn es in meinem Leben zu einer größeren Krise kommt, kippe ich höchstwahrscheinlich aus einer stabilen Phase in eine instabile, ich werde dann entweder manisch oder depressiv. Mittlerweile meistens letzteres, aber nicht nur.

Ich habe einmal von einem Künstler gelesen, der schrieb, dass er seine manischen Phasen nicht missen möchte, da sie ihm zu kreativen Schüben verhelfen würden. Diese Erfahrung habe ich selbst ebenfalls gemacht, z.B. über einen längeren Zeitraum sehr wenig Schlaf zu haben und dennoch ein Gefühl, als ob ich Bäume ausreißen könnte. Oder mich stundenlang ohne Pause mit kreativen Tätigkeiten beschäftigen zu können und dabei alles um mich herum zu vergessen.
Von daher würde ich persönlich aufgrund dieser Erfahrungen sagen, diese Neurodivergenz bringt nicht ausschließlich Negatives mit sich, zumindest nicht bei mir. Aber auch das ist ganz individuell unterschiedlich. Die Kehrseiten von Manien können die folgenden sein: ein völlig sorgloser Umgang mit Geld, wortwörtlich ver-rückte Ideen, ständige Gedankensprünge, Verlust der Konzentrationsfähigkeit, zunehmende Gereiztheit, die bei manchen Betroffenen auch zu Aggressionen führen kann und noch andere Probleme.

Die Frage ist, wie bei allen psychischen Erkrankungen und Beschwerden, wie hoch ist der persönliche Leidensdruck? Den manischen Phasen gegenüber stehen die depressiven, und die kommen bei mir mit allem daher, was Depressionen ausmachen: Antriebslosigkeit, Erschöpfung, Schlafstörungen, Existenz- und Versagensängste, bis hin zu suizidalen Gedanken, krampfhaftes Weinen schon aus dem geringsten Anlass heraus. Auch alltägliche Dinge nicht mehr oder kaum noch bewältigen können: Hausarbeit, Körperpflege, einkaufen gehen, das Haus verlassen.

Bei mir kamen außerdem noch Psychose-Erfahrungen hinzu, die letzte hatte ich vor dreizehn Jahren. Psychosen sind durch einen Realitätsverlust gekennzeichnet, mitunter gibt es auch das Gefühl, mit allem verbunden zu sein, die eigenen Grenzen scheinen sich aufzulösen, außerdem kann es auch Halluzinationen aller Art geben, die als real empfunden werden. Psychosen können sehr verstörend wirken, manchmal sind sie auch mit starker Paranoia verbunden. Und wem das im Zusammenhang mit Schizophrenie bekannt vorkommt: Ja, auch bei dieser Erkrankung sind Psychosen häufig. Aber nicht jeder Mensch mit der bipolaren Neurodivergenz erlebt Psychosen.

Ich habe einen Großteil meines Lebens über all das geschwiegen. Ich habe mich selbst lange Zeit stigmatisiert, mich bei jeder kleinsten Gefühlsregung gefragt: Ist das nun ein „normales” Gefühl, oder ist es depressiv oder manisch?
Irgendwann habe ich damit aufgehört. Ich akzeptiere mich nun mehr so wie ich bin, mit dieser Erkrankung. Mit allem, was dazu gehört. Ich bin nachsichtiger mit mir selbst geworden. Wenn ich mal eine Nacht schlecht schlafe, mache ich mir weniger Sorgen als früher, dass nun wieder eine instabile Phase anbricht. Ich mache mir auch selbst weniger Druck. Einfach ist es dennoch nicht, das zeigt auch mein beruflicher Patchwork-Lebenslauf.

Ich habe mir vorgenommen, weniger über meine Erkrankung zu schweigen. Ich bin auch als Sensitivity Reader aktiv geworden und helfe Autor*innen aus Sicht einer Betroffenen, über diese Erkrankung zu schreiben. Im vergangenen Jahr habe ich eine intersektionale Kurzgeschichte über eine Frau geschrieben, die an der bipolaren Störung leidet. Diese Geschichte, „Kein Allheilmittel“, findet ihr in der Anthologie „Urban Fantasy: going intersectional“.

Ich habe gelernt, mit meiner Erkrankung zu leben. Sie ist ein Teil von mir und wird mich wohl mein gesamtes Leben lang begleiten. Und ich hoffe, etwas gegen Stigmatisierung tun zu können, u.a. indem ich in jener Kurzgeschichte und den unten genannten Romanen aufzeige, dass es möglich ist, trotz einer psychischen Erkrankung und all der Schwierigkeiten, die sie mit sich bringt, ein erfülltes Leben zu führen.

Und wie sieht es mit der Repräsentation aus?

In Medien aller Art, auch in der Literatur, kommen Figuren mit psychischen Erkrankungen meistens nicht gut weg: Sie leiden viel, werden oft einzig und allein auf ihre Erkrankung reduziert, alles dreht sich nur darum. Oft wird die betreffende Erkrankung auch für sehr viel „Drama“ oder Schockeffekte verwendet, z.B. einen dramatisch inszenierten Suizid oder entsprechende Versuche.

In Krimis und Thrillern sind oft Menschen mit psychischen Erkrankungen die Täter*innen und die Darstellung von psychiatrischen Einrichtungen sorgen mitunter für Grusel. Dabei sieht die Realität anders aus, nur ein geringer Anteil an psychisch erkrankten Menschen wird gewalttätig. In vielen Fällen ist eine psychische Erkrankung so belastend für Körper und Geist, dass die Betroffenen eine Gewalttat gar nicht planen und durchführen könnten.***

Immer wieder habe ich außerdem Bücher gelesen, in denen psychisch erkrankte Nebenfiguren den Protagonist*innen das Leben schwer machen oder ihnen im Weg stehen, z.B. Elternteile oder Menschen im Bekanntenkreis. Sie dienen damit im Grunde als Plotdevice ohne eigene Agenda, um die Entwicklung der Protagonist*innen voranzutreiben.

Ich habe bisher kaum Beispiele für eine positive Repräsentation von Menschen mit psychischen Erkrankungen gefunden. Ein gelungenes Beispiel ist aus meiner Sicht die männliche Hauptfigur aus „Wasteland“ von Judith und Christian Vogt. Zeeto hat die bipolare Störung/Neurodivergenz und hat gelernt, damit zu leben. Er hat ganz praktische Bewältigungsstrategien gefunden, um mit dem Auf und Ab von Depressionen und manischen Phasen gut umgehen zu können. Er hat auch Unterstützung in seinem Umfeld. Und trotz seiner gesundheitlichen Schwierigkeiten unternimmt er allerhand Dinge, die ich nun wegen Spoilergefahr nicht verraten möchte. Und all das sendet eine gute Message: Betroffene sind mehr als ihre Erkrankung. Und man kann lernen, mit einer psychischen Erkrankung zu leben.

Ich wollte ebenfalls eine positive Repräsentation kreieren. Deshalb habe ich die Romane „Die Rolle seines Lebens“ und „An seiner Seite“ geschrieben.

Der Protagonist Esteban hat Depressionen, aber das führt in seiner Geschichte nicht zu einem Riesendrama. Stattdessen lernt er in Oliver jemanden kennen, der ihn unterstützt, der wortwörtlich an seiner Seite ist und zu ihm hält. Für beide ist das ein Lernprozess. Und nein, Liebe oder eine Liebesbeziehung ist kein Heilmittel gegen Depressionen, wie es in manchen Geschichten gern heraufbeschworen wird. Das mag eine schöne Fantasie sein, aber es geht an der Realität vorbei.
Eine stabile Beziehung oder andere unterstützende Beziehungen können einem Menschen mit Depressionen allerdings sehr helfen, mit der Erkrankung besser zurechtzukommen, zumindest habe ich diese Erfahrung in meinem eigenen Leben machen dürfen, denn ich bin seit 2010 in einer stabilen Beziehung. Mein Protagonist Esteban holt sich Hilfe, er macht eine Therapie. Und erkennt am Ende, dass die Depression immer ein Teil seines Lebens sein wird. Und dass man damit leben kann.

Fußnote und mehr

*** Zu diesem Thema kann ich einen Blogbeitrag von Elea Brandt sehr empfehlen, am Beispiel der Schizophrenie:
https://eleabrandt.de/2020/01/30/schizophrenie-in-den-medien/

Der oben genannte Stephen Fry hat übrigens eine zweiteilige Dokumentation über die bipolare Störung gemacht: „The Secret Life of the Manic Depressive”
https://en.wikipedia.org/wiki/Stephen_Fry:_The_Secret_Life_of_the_Manic_Depressive

Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) erzählt gemeinsam mit dem Schriftsteller und Zeichner Matthew Johnstone die Geschichte „I had a black dog, his name was depression“.
Hier das kurze Video in deutscher Übersetzung: „Ich hatte einen schwarzen Hund, sein Name war Depression“

Weiterführende Literatur
„Achterbahn der Gefühle – Mit Manie und Depression leben lernen“
von Thomas Bock, 2007

„Meine ruhelose Seele: Die Geschichte einer bipolaren Störung“
von Kay Redfield Jamison, 2014

„Die bipolare Störung: Ein Ratgeber aus Angehörigensicht“
von Rolf Wenzel, 2015

„Ratgeber Bipolare Störungen: Hilfe für den Alltag“
von Daniel Illy, 2021