Ich habe mich lange gefragt, warum sich manche Menschen so gegen Diversität in der Literatur (oder anderen Medien) sperren. Warum sie das entweder nicht interessiert oder sie es sogar offen ablehnen. Oder warum sie sofort genervt reagieren, wenn jemand darauf hinweist, Teil einer marginalisierten Gruppe zu sein. Eigentlich sollte es doch mehr als willkommen sein, die ganze bunte Vielfalt des Lebens in Medien abzubilden. Sollte man eigentlich meinen …
Lasst uns in diesem Zusammenhang über Privilegien reden. Und das wird jetzt einigen Leuten möglicherweise wehtun. Und damit wir das Thema nicht zu weit aufmachen, beschränke ich mich auf den deutschsprachigen Raum.
Der rundum privilegierte Mensch im deutschsprachigen Raum ist weiß, cisgender, heterosexuell und männlich, er hat keine Behinderung. Er ist neurotypisch, dyageschlechtlich (das Gegenstück zu intergeschlechtlich) und allosexuell (Auf dem Spektrum der Sexualität ganz am anderen Ende von Asexualität). Außerdem ist er nicht arm und hat auch sonst wenig Probleme.
Das gilt für eine Mehrheit an Menschen. Und diese Menschen bestimmen den Diskurs, auch in der Literatur. Sie sitzen in Feuilleton-Redaktionen und in den Jurys von Literaturpreisen. Sie sind im Journalismus tätig und pflegen die deutschsprachige Wikipedia. Viele von ihnen sind sehr gebildet, haben Karriere gemacht. Manche von ihnen sind in Vereinen, die sich um die deutsche Sprache sorgen, aber das ist ein Thema für sich und dieses Fass möchte ich nun nicht aufmachen.
Wenn sie keinen engeren Kontakt mit marginalisierten und/oder intersektionalen Menschen haben, besteht ihre Bubble, ihr Umfeld ebenfalls aus privilegierten Menschen. Und das ist ziemlich bequem. Viele dieser Männer (denn meistens sind es cis Männer, wie schon erwähnt) sind mit einer Literatur aufgewachsen, die mehrheitlich von Menschen geschrieben wurde, die ihnen gleichen: weiß, cis, heterosexuell … siehe die Auflistung oben. Sie sind damit aufgewachsen, selbst wieder und wieder in der Literatur und anderen Medien repräsentiert worden zu sein. Das hat sie geprägt, sie haben dadurch sicherlich auch einiges an Selbstbestätigung gefunden und dieses wunderbare einzigartige Gefühl, wenn man sich in sympathischen, coolen, fiktiven Figuren widergespiegelt findet. Und entsprechend erwarten viele von ihnen auch, immer wieder solche Repräsentationen in der Literatur und anderen Medien zu finden. Weil sie es so gewohnt sind, und weil es bequem ist.
Dieses von mir erwähnte wunderbare Gefühl ist eines, das viele Frauen und nichtbinäre Menschen aus ihrer Kindheit kaum oder gar nicht kennen. Ein einzelnes Beispiel: Ich kann die Euphorie kaum beschreiben, die ich verspürte, als ich zum ersten Mal ever einen Film mit einer Superheldin in der Hauptrolle sah. Das war 2017 und ich war 39.
Kommen wir wieder zurück zu den Menschen mit den Privilegien. Die meisten von ihnen konnten es sich im Laufe ihres Lebens so richtig gemütlich damit einrichten – sie mussten sich nie persönlich auseinandersetzen mit Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus und anderen menschenverachtenden -ismen. Viele von ihnen umgeben sich auch gern vor allem mit Menschen, die ähnlich sind wie sie selbst, also auch ähnlich privilegierte Erfahrungen gemacht haben.
Und dann kam das Internet und ab ca. 2007 verschiedene Social Media. Man kann über beides viel Negatives sagen, aber zugleich bieten diese virtuellen Räume marginalisierten und intersektionalen Menschen den Platz, öffentlich oder halb öffentlich von ihren Erfahrungen zu erzählen, von ihren Wünschen und Bedürfnissen, und ja, auch von Wut und Enttäuschung angesichts von Diskriminierungserfahrungen.
Und das zu lesen, ist unbequem für all die Privilegierten da draußen. Denn während sie es sich in ihrer privilegierten Bubble gemütlich eingerichtet haben, werden nun andere Stimmen laut, die von ganz anderen Erfahrungen erzählen – wie ich schon erwähnte, Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus und andere menschenverachtende -ismen. Darüber hinaus auch von einem Mangel an Diversität und Repräsentation in der Literatur und anderen Medien, aber auch in der Berufswelt, in Communities aller Art und noch anderen Umgebungen.
Es dürfte für die meisten privilegierten Menschen ein unangenehmes Gefühl sein, von Perspektiven weniger privilegierter Menschen zu erfahren. Viele Privilegierte gehen dann schnell in eine Art Abwehrhaltung oder leugnen sogar das, was sie von Betroffenen hören oder reden es klein. Sie sagen vielleicht, »Du stellst dich zu sehr an.« Oder »Du willst nur Aufmerksamkeit.« Oder sie sagen von sich, »Natürlich bin ich gegen Rassismus«, aber sie hören zugleich Menschen, die von rassistischen Erfahrungen betroffen sind, gar nicht erst zu, sondern belehren diese stattdessen, was denn Rassismus sei und was nicht.
Man könnte dies zusammenfassend privilegierte Zerbrechlichkeit nennen (in Anlehnung an Begriffe wie White Fragility, also englisch: Privileged Fragility) – dies beschreibt das Phänomen, dass manche privilegierte Menschen sich schnell angegriffen fühlen, wenn man sie auf menschenverachtende, destruktive -ismen hinweist, oder dass sie diese und damit verbundene Probleme leugnen, weil sie sie nicht wahrhaben wollen.
Oft kommt es in entsprechenden Gesprächen und in Social-Media-Kommentarspalten zu Derailing (Vom Thema ablenken) oder zu Whataboutism (»Ja, aber was ist mit …, das ist doch auch ganz schlimm!«). Denn es ist für viele privilegierte Menschen offenbar zu schmerzhaft oder unangenehm, sich einzugestehen, wie privilegiert sie selbst sind, während andere Menschen in einigen oder sogar mehreren Lebensbereichen immer wieder Diskriminierungen erleben.
Ich vermute, entsprechend ist es zumindest manchen dieser privilegierten Menschen auch sehr unangenehm, über marginalisierte Figuren in der Literatur zu lesen oder sie in anderen Medien zu finden. Denn die sind ja erstens so anders als sie selbst, zweitens schlagen sich diese Figuren womöglich mit unangenehmen -ismen herum und drittens finden die privilegierten Leute sich darin nicht repräsentiert. (Welcome to my world.)
Ich möchte diesen Beitrag schließen mit einem Zitat des Historikers Patrice Poutus:
„Leute, die privilegiert sind, empfinden Gleichberechtigung als eine Art Unterdrückung“
Weiterführendes:
„Die meisten Weißen sehen nur expliziten Rassismus“
Warum reagieren Weiße so abwehrend, wenn es um Rassismus geht? Weil sie es nicht gewohnt sind, sich mit ihrem Weißsein zu befassen, sagt die Soziologin Robin DiAngelo.
https://www.zeit.de/campus/2018-08/rassismus-dekonstruktion-weisssein-privileg-robin-diangelo
Podcast-Episode: „Weiße Zerbrechlichkeit und weiße Tränen“
von den Journalisten Marcel Aburakia und Malcolm Ohanwe
https://kanackischewelle.podigee.io/21-weisse-zerbrechlichkeit-weisse-traenen
Blogbeitrag von mir: Die Welt ist gemein zu marginalisierten Menschen