Interview mit Noah Stoffers

Noah Stoffers, Foto © Marco Ansing

Interview mit Noah Stoffers

Lesezeit: ca. 7 Minuten

Amalia: Hallo Noah, danke, dass du dir die Zeit nimmst für ein Interview. Du bist als Autor*in und Lektor*in tätig. Was gefällt dir an diesen beiden Tätigkeiten besonders? Und magst du das eine lieber als das andere?

Noah: An beiden Tätigkeiten liebe ich die Arbeit mit Geschichten und mit Sprache. Was sie unterscheidet, ist die Perspektive. Beim Schreiben meiner eigenen Romane bin ich automatisch tiefer in der Geschichte. Ich kenne sie irgendwann in- und auswendig. Im Lektorat schaue ich von außen auf eine Geschichte, die jemand anderes geschrieben hat, und kann auf inhaltlicher und stilistischer Ebene Hinweise zur Überarbeitung geben.

Ich liebe es schon sehr, meine eigenen Geschichten zu schreiben. Gleichzeitig merke ich bei einem neuen Lektorat immer wieder, wie bereichernd es sein kann, an anderen Geschichten mitzuarbeiten. Das hat auch mein eigenes Schreiben verändert.

© Droemer Knaur Verlag, Buchcoverdesign: © Alexander Kopainski

Amalia: Deinen neuen Urban-Fantasy-Roman „Cage of the Moon“, der im Januar 2026 erscheint und vorbestellbar ist, durfte ich testlesen und finde ihn schön divers, du gehst auch auf unterschiedliche Kulturen ein, wie es zu einer multikulturellen Stadt wie San Francisco sehr gut passt. Wie hast du für den Roman recherchiert? Und bist du selbst schon mal in San Francisco gewesen?

Noah: San Francisco ist schon seit langem ein Traumziel von mir, aber ich war noch nicht dort. Ich habe einerseits viel zur Stadt recherchiert, durch Reiseberichte, Dokumentationen oder auch Vlogs von Bewohnern, die ihre Heimat online zeigen. Und ich wollte andererseits gerne Figuren, die San Franciscos Vielfalt widerspiegeln. Dafür habe ich zum Beispiel das Buch „American Brujeria: Modern Mexican American Folk Magic“ von J. Allen Cross gelesen oder auch Reportagen von Amerikaner*innen mit Migrationsgeschichte gesehen. Andere Sachbücher handelten zum Beispiel von der Darstellung von Vampiren im Laufe der Zeit oder von Alcatraz, das ein wichtiger Schauplatz ist. Auch Food- und Festivalblogs waren eine wichtige Inspiration. Außerdem hatte ich das Glück, dass ich von dir und auch von meiner Lektorats-Person, Lian Stollenwerk-Ganssehr wertvolle Anmerkungen bekommen habe.

Amalia: Stark, wie viel Recherche in deinem Roman steckt. Wie bist du auf die Idee zu für die Geschichte gekommen?

Noah: Den Anstoß hat ein Gespräch mit meiner damaligen Lektorin Jacqueline Wagner nach einer Lesung gegeben. Wir hatten uns über Vampir- und Werwolf-Romane unterhalten und über die Chancen, polyamore Geschichten zu schreiben. Ich wollte schon lange eine Liebesgeschichte zwischen mehr als zwei Personen schreiben und ich habe Werwölfe sehr gern. Hauptsächlich, weil ich in Pen-&-Paper-Runden regelmäßig Werwölfe gespielt habe. Vampire waren ein neues Feld für mich, aber ich wollte gern eine Heldin haben, die mindestens genauso stark ist, wie die beiden männlichen Hauptfiguren.

Gabhán, Honora und Dan. Charkterportraits
© @jessamyart

Amalia: Das ist dir aus meiner Sicht fantastisch gelungen. Welche Figur im Roman, abgesehen von deinen drei Hauptfiguren, magst du besonders, und warum?

Noah: Es hat tatsächlich Spaß gemacht, den Antagonisten Ryder Mallroy zu schreiben, der ein ziemliches Ekelpaket ist. Und ich bin ein großer Fan von Dans Kollegin, einer Art magischer Polizistin, die alleinerziehende Mutter ist, Mode liebt und sich von niemandem herumschubsen lässt.

Amalia: Mit deinem Dark-Academia/Fantasy-Roman „A Midsummer’s Nightmare“, den ich sehr empfehlenswert finde, warst du auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Was war das für ein Gefühl für dich?

Noah: Vielen Dank für das liebe Kompliment! Die Nachricht von der Platzierung auf der Bestseller-Liste habe ich im ersten Moment überhaupt nicht geglaubt. Ich fragte sogar zurück, ob da nicht vielleicht ein Irrtum vorliegen würde, weil ich es für ausgeschlossen gehalten habe. Danach war ich aber ungeheuer glücklich. Obwohl der orange Bestseller-Sticker ja nichts über die Qualität eines Buches aussagt, tut er einiges für die Sichtbarkeit. Deshalb war das schon lange ein großer Traum von mir. Die Nachricht kam am Nachmittag meines Geburtstags an: Ich habe sehr aufgeregt meine Eltern angerufen und war dann noch eine Weile völlig aus dem Häuschen.

Amalia: Das freut mich sehr für dich. Was steht als nächstes für dich an? Schreibst du an einem neuen Projekt (falls du schon etwas darüber verraten kannst) oder arbeitest du eher an Lektoraten oder etwas anderem?

Noah: Ich habe schon zwei Romanideen, die ich sehr gerne schreiben würde, da ist aber im Augenblick noch nichts spruchreif. Außerdem habe ich im Dezember das nächste Lektorat, vorher noch eine Lesung und hoffentlich ein Seminar. Als Selbstständig*er habe ich meistens mehrere Bälle in der Luft und arbeite oft an mehr als einem Projekt.

Amalia: Du gibst auch manchmal Workshops für Autor*innen zum Thema Schreiben von trans und nichtbinären Figuren, bzw. queere Repräsentation. Was für Erfahrungen hast du damit gemacht? Schreibe auch gern, wo man deine Workshops finden kann.

Noah: Das ist eine Arbeit, die ich sehr gern mag. Gerade durch den Austausch in den Workshops. Ich gestalte sie in der Regel so, dass es einen Vortrag gibt und danach oder zwischen zwei Vortragsblöcken Diskussionen und gemeinsame Aufgaben. Meistens kommen da Menschen mit unterschiedlichen Vorkenntnissen und Lebenserfahrungen zusammen – was oft zu spannenden Gesprächen führen kann. Besonders oft werde ich zur Darstellung von queeren Figuren gebucht. Aber ich gebe auch sehr gern Fortbildungen rund um den Weltenbau.

Am 8. November 2025 gebe ich zum Beispiel ein Seminar für die Bücherfrauen zu queerer Repräsentation in den Medien.
https://www.buecherfrauen.de/termine/artikel/diversitaet-in-romanen-queere-repraesentation-1

Und zusammen mit Victoria Linnea und Nora Bendzko arbeite ich gerade im Hintergrund an einer Seminarreihe. Dafür gibt es hier eine unverbindliche Warteliste:
https://www.victorialinnea.de/diversitaet101-warteliste

Amalia: Apropos Diversität – sprechen wir kurz über progressive Phantastik und Diversität. Was hat sich aus deiner Sicht in den vergangenen paar Jahren diesbezüglich auf dem Buchmarkt verändert? Ist die Phantastik zumindest teilweise progressiver geworden oder war mehr Diversität in der Literatur nur eine Art kurzer Trend?

Noah: Ich habe schon den Eindruck, dass Bücher mehr Diversität zeigen als vor zehn Jahren und dass die Repräsentation auch immer besser gelingt. Sowohl bei deutschsprachigen Autor*innen als auch bei Übersetzungen sehe ich mehr Own-Voice-Romane und auch viele Autor*innen, die sich sichtlich um gute Repräsentation bemühen. Ich glaube, das ist die stärkste Veränderung. Gleichzeitig ist Progressivität in den Medien generell eher ein Marathon als ein Sprint. Die Strukturen in den Verlagen verändern sich nicht so schnell und der Markt ist nicht von jetzt auf gleich ein komplett anderer.

Er ist gefühlt in den letzten Jahren sogar noch härter, noch schnelllebiger geworden – was natürlich gerade mit zum Beispiel chronischen Erkrankungen, geringem Einkommen oder als Alleinerziehende kaum zu stemmen ist. Also können Marginalisierte härtere Produktionsbedingungen im Zweifel noch schlechter wegstecken.

Und natürlich schreibt auch nicht die gesamte Buchbranche nur noch Romane voller Diversität. Viele Alteingesessene bleiben seit Jahren ihren Themen treu und haben schlicht kein Interesse an progressiven Büchern. Manche lehnen sie sogar regelrecht ab, vielleicht weil sie sich von dieser Entwicklung bedroht fühlen.

Also ich würde sagen, es gibt einen merklichen Fortschritt – aber eben auch noch Luft nach oben.

Amalia: Wenn du zwei Wünsche frei hättest, was würdest du dir von Leser*innen und dem deutschsprachigen Buchmarkt wünschen?

Noah: Von den Lesenden würde ich mir wünschen, dass sie sich auf Bücher einlassen, die die Lebensrealität von Marginalisierten oder schlicht anderen Kulturen abbilden – gerade auch dann, wenn es mit Gewohnheiten bricht und vielleicht mal herausfordernd ist. Bitte gebt diesen Büchern eine Chance! Und wenn sie euch gefallen, dann feiert sie genauso, wie berühmte Titel.

Vom Buchmarkt würde ich mir wünschen, dass er anfängt, seine Strukturen aufzubrechen. Wir stecken alle in finanziellen Zwängen, aber wenn Autor*innen unter dem Druck, gleichzeitig im Akkord zu schreiben und ihre Bücher zu bewerben, zusammenbrechen, dann hat der Buchmarkt dauerhaft nichts davon. Gebt uns mehr Zeit und mehr Unterstützung beim Marketing. Gerade auch bei ungewöhnlichen Ideen, die vielleicht ein Risiko darstellen.

Amalia: Danke für deinen Aufruf an die Lesenden und den Buchmarkt. Gibt es noch etwas, was du gern ansprechen möchtest?

Noah: „Cage of the Moon“ ist mein erster romantischer Fantasy-Titel. Ich habe großen Respekt davor, über Liebe, Romantik und Bettgeflüster zu schreiben. Gerade, weil es keine Kleinigkeit ist, diese Gefühle in Worte zu packen. Aber natürlich wird es auch wieder Geheimnisse, Verbrechen und einen magischen Weltenbau geben. Der Roman erscheint Mitte Januar 2026 und ich bin schon sehr gespannt darauf, wie er den Lesenden gefällt.

Herzlichen Dank, dass du ihn noch in der ersten Fassung gelesen hast. Das hat definitiv Spuren auf den Seiten hinterlassen. Und vielen Dank für das Interview!

Amalia: Vielen Dank auch von mir für das Vertrauen beim Testlesen und dass du dir die Zeit für das Interview genommen hast. Last but not least: Wo kann man dich online finden? (Deine Webseiten und/oder Social Media Profile)

Noah:

Am ehesten auf Instragram: https://www.instagram.com/noah.stoffers

Aber auch hier:

Threads: https://www.threads.com/@noah.stoffers

TikTok: https://www.tiktok.com/@noah.stoffers

Lektorats-Webseite: https://www.textpfade-lektorat.de/

Bücher
Die Verlagsseite von „A Midsummer’s Nightmare“
https://www.droemer-knaur.de/buch/noah-stoffers-a-midsummer-s-nightmare-9783426530177

Die Verlagsseite von „Cage of the Moon“
https://www.droemer-knaur.de/buch/noah-stoffers-cage-of-the-moon-9783426564752

Bücher von Noah Stoffers im Amrûn Verlag:
„Berlin – Rostiges Herz“ https://amrun-verlag.de/produkt/berlin/

„Berlin – Magische Knochen“ https://amrun-verlag.de/produkt/berlin-magische-knochen-band-2/

Die Welt ist gemein zu marginalisierten Menschen

Überarbeitet im August 2024

Inhaltshinweise zu diesem Artikel
Erwähnung von: Queerfeindlichkeit, Rassismus, Ableismus, Suizid, Diskriminierung von marginalisierten Menschen, Gewalt gegen marginalisierte Menschen, Misgendering, psychische Erkrankungen, Neurodivergenz
, Islamfeindlichkeit, Mobbing, Bodyshaming

Es gibt Leute, die von marginalisierten Menschen sagen, diese würden immer jammern und behaupten, die Welt sei so gemein zu ihnen. Gerade heute las ich solch einen Kommentar in einem sozialen Netzwerk.

Dieses sogenannte „Jammern” hat seinen Grund und ist in meinen Augen gerechtfertigt. Denn die Welt ist gemein zu marginalisierten Menschen.

Lasst mich euch mehr darüber erzählen…

People of Color, Black People of Color (oft abgekürzt Bl_PoC), Migrant*innen, Menschen mit Migrationshintergrund, sie erleben ständig Alltagsrassismus. Der ist vielleicht nicht mal beabsichtigt oder tarnt sich gar als nettgemeintes Kompliment, ist aber dennoch Rassismus. Sie erleben auch Rassismus bei der Jobsuche, der Wohnungssuche, bei Ausweiskontrollen und vielem mehr. Manche werden Opfer von verbaler oder auch körperlicher Gewalt.

Muslimische Frauen werden, wenn sie Kopftuch tragen, in vielen beruflichen und auch anderen Bereichen, diskriminiert.

Queere (LGBTIAQ*) Menschen müssen sich immer wieder in ihrem Leben entscheiden, ob sie sich outen, wo und wie und vor wem, oder lieber doch nicht, um ihre Sicherheit oder einfach ihr Wohlbefinden nicht zu gefährden. Für manche ist es eine Strategie, als heterosexuell oder cisgender durchgehen zu können, um beides nicht in Gefahr zu bringen. Manche können oder wollen diese Art von Versteckspiel nicht. Oftmals ist selbst eine simple Zuneigungsbezeugung zu gleichgeschlechtlichen Partner*innen in der Öffentlichkeit, wie Händehalten oder ein einfacher Kuss, etwas, das manche andere Menschen als Provokation betrachten und mit Aggression bis hin zu körperlicher Gewalt beantworten.

Genderqueere oder nonbinäre Menschen müssen immer wieder erklären, dass sie weder Männer noch Frauen sind, wenn sie als das eine oder andere von ihren Mitmenschen gelesen werden. Oft müssen sie immer wieder an ihre Pronomen erinnern – was von manchen Menschen vehement abgelehnt wird, so dass es für betroffene Personen zu schmerzhaftem Misgendering kommt. Dabei sind diese Pronomen häufig ein wichtiger Teil ihren genderqueeren Identität.

Misgendering, das erleben auch trans Menschen immer wieder. Sie müssen für die Transition, wenn sie diese erreichen wollen, einen langen und steinigen Weg durch Ämter, Behörden, Therapiepraxen etc. gehen, zumal das entsprechende Transsexuellengesetz noch immer unzureichend ist. Das kostet eine Menge Kraft.

Die Identität von trans Menschen werden außerdem von TERFs (trans excluding radical feminists) angezweifelt, z.B. werden sie mit Argumenten des sogenannten Gender Essentialismus in Frage gestellt.

Trans Menschen sind wie viele queere Menschen oft außerdem Gewalt ausgesetzt, bis hin zu Mord. Deshalb gibt es jährlich den Trans Remembrance Day, der an die Opfer von Transfeindlichkeit erinnert.

Viele queere Menschen werden strukturell diskriminiert, z.B. wenn es um Fragen des Familienrechts geht, um Namens- und Personenstandsänderungen und noch einiges mehr.

Menschen mit Behinderungen werden in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens nicht „mitgedacht”, was auch eine Form struktureller Diskriminierung sein kann – überall gibt es Barrieren, sei es für Menschen mit Gehbehinderungen, Gehörlöse, Menschen mit Sehbehinderung, Lernbehinderungen, geistige Behinderungen oder noch andere.
Entsprechend haben diese Menschen in ihrem Alltag immer wieder mit allerhand Problemen zu kämpfen, die sich viele Menschen aus der Mehrheit der Bevölkerung kaum vorstellen können. Sie erleben außerdem oft Ableismus, manche von ihnen tagtäglich.

Menschen mit Neurodivergenz (z.B. Autismus, ADHS oder andere) erleben oft Probleme im Umgang mit anderen Menschen, und Alltagssituationen, die für neurotypische Leute vollkommen einfach sind, erleben diese mitunter als sehr stressig, z.B. mit einer starken Reizüberflutung oder anderen Wahrnehmung und Empfindungen, die sich mitunter deutlich von denen neurotypischer Menschen entscheiden.

Menschen mit chronischen Erkrankungen oder auch chronischen psychischen Erkrankungen kämpfen häufig ihr ganzes Leben lang gegen die Auswirkungen ihrer Erkrankung an, was unglaublich viel Kraft kosten kann. Zugleich werden sie oft von ihrem Umfeld oder von Arbeitgeber*innen stigmatisiert, falls sie überhaupt längerfristig arbeiten können. Manche von ihnen leben mit ständigen Schmerzen, körperlicher oder seelischer Art.

Menschen, die offen einer heidnischen Religion (Paganismus) anhängen, werden oft belächelt, lächerlich gemacht oder gar von manchen Menschen mit anderer Religionszugehörigkeit einer schweren Sünde bezichtigt, als ob ihre Glaubensrichtung nicht ebenso valide sei wie eine der großen Weltreligionen.

Menschen, die mit Aussehen oder Körpertyp nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen, erleben Bodyshaming, werden gemobbt, beschimpft, ausgelacht …

Und das sind bei weitem nicht alle marginalisierten Gruppen, die es gibt. Denken wir z.B. mal an obdachlose Menschen, an Menschen in dauerhaft prekären Lebensverhältnissen oder Alleinerziehende, oder indigene Menschen, Sinti und Roma (bzw. gegendert: Sinti*zze und Rom*nja) und noch viele mehr. Und von mehrfach Marginalisierten fange ich jetzt mal nicht an.

Eines möchte ich betonen: All solche Formen von Diskriminierungen, von Mikroaggressionen im Alltag, Vorurteile oder auch offen feindseligem Verhalten, das erleben viele marginalisierte Menschen nicht nur ein paar Mal, sondern immer wieder und wieder. Nicht jeder Mensch kann oder will das alles einfach „wegstecken“, ignorieren, weglächeln oder einfach schweigend erdulden.

Diskriminierung, Vorurteile, Hatespeech und feindliches Verhalten, in ihren vielseitigen Ausprägungen, verletzen, machen wütend, traurig, enttäuschen, lassen mitunter Zweifel an sich selbst aufkommen, an der eigenen Identität, oder sind auf andere Weise destruktiv.

Ich lade dich zu einem Gedankenspiel ein.
Nimm einmal an, du bist in einer vollkommen privilegierten Position.
Das heißt in diesem Fall: Du bist Weiß. Männlich und cisgender. Nicht intersexuell. Heterosexuell. Christlich oder konfessionslos. Außerdem hast du Idealgewicht, bist neurotypisch und psychisch gesund.
Und nun geht es weiter …
Jeden Tag sagen Leute Dinge zu dir, die du nicht mit deinem Selbstbild in Einklang bringen kannst.
„Du bist krank.“
„Du bist pervers.“
„Dein Hautton ist zu hell.“
„Mit deiner Figur stimmt etwas nicht.“
Sie mögen es nicht, wenn du deine Freundin küsst oder mit ihr Hände hältst. Das solltest du besser sein lassen, sagen sie dir, sonst kriegst du Ärger. Oder Prügel.
Sie sagen: „Deine Religion ist nicht die wahre.“ Oder: Ihre Religion sei die einzig wahre.
Sie sagen verletzende Dinge über deine Männlichkeit, über deine Art, dich zu zeigen oder die Art, wie du dich bewegst oder kleidest. Sie lästern über deine Herkunft.

Vielleicht bist du erst irritierst. Fängst an, dagegen anzureden. Oder du schweigst und wunderst dich nur. Aber die Leute hören nicht auf, diese Dinge über dich zu sagen, hinter deinem Rücken (aber so, dass du es hören kannst) oder dir ins Gesicht. Und sie hören nicht damit auf. So geht das Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Wie würdest du dich damit auf Dauer fühlen? Was würdest du tun?

Nicht jede Person hat ihr Leben lang die Resilienz, ständige Diskriminierungen, verletzende Bemerkungen oder gar physische Gewalt unbeschadet an Körper, Geist und Seele zu überstehen. Wie kann man da als marginalisierter Mensch anders reagieren als zu „jammern“?

Übrigens: Die meisten marginalisierten Gruppen haben eines gemeinsam: Die Suizidraten dieser Gruppen sind, statistisch gesehen, um einiges höher als in der nicht-marginalisierten Mehrheit der Bevölkerung. Viele marginalisierten Menschen erkranken auch häufiger an psychischen Erkrankungen.

Und noch etwas: In Social Media lese ich immer wieder, dass manche marginalisierte Menschen keine Lust haben, wieder und wieder den „Erklärbär” für ihre nicht-marginalisierten Mitmenschen zu spielen – um zu erklären, wie sich dieses oder jenes in ihrer marginalisierten Gruppe verhält oder bei ihnen persönlich, oder was für Probleme sie in ihrem Leben haben. Denn auch dieses ständige Erklären kostet Kraft.

Und angesichts all dessen ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass sich manche dieser Menschen lieber in einen „safe space” (oder „safer space“, wie manche mittlerweile sagen) zurückziehen und unter ihresgleichen bleiben, weil sie dort mehr Verständnis finden, als bei vielen Nicht-Marginalisierten.

Die Welt ist gemein zu marginalisierten Menschen. Und es wäre schön, wenn sie es ein bisschen weniger wäre.

Einige weitere Texte:

Über rassistische Diskriminierung in der Arbeitswelt
https://www.zeit.de/arbeit/2020-01/rassismus-job-arbeitsplatz-alltag-diskriminierung-kollegen

Über verschiedene Diskriminierungsformen, darunter auch strukturelle und institutionelle:
https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/diskriminierungsverbot/konzept/formen/?gclid=Cj0KCQiA0ZHwBRCRARIsAK0Tr-oaR9hBNHMp53rPcxnUa8ULqmwtMvtOJiFvbiYgGY20fnWxM4cFFS0aAghmEALw_wcB

Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion psychisch kranker Menschen https://www.kerbe.info/files/Kerbe_ausgaben/2010-10-22_Kerbe4_10-Artikel-Kardorff.pdf

Studie: Fast 40 Prozent der Europäer sind psychisch krank
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/studie-fast-40-prozent-der-europaeer-sind-psychisch-krank-a-784400.html

Was man gegen Alltagsrassismus tun kann
https://www.fluter.de/was-man-gegen-alltagsrassismus-machen-kann

Transidentität – ein Erfahrungsbericht
https://ze.tt/transidentitaet-wie-viktoria-nach-ihrem-zwangsouting-ihre-familie-verlor/

Über transidente Kinder
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-05/transidente-kinder-trans-maedchen-forschung

Transfeindlichkeit unter Frauen: Besorgte Feministinnen
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/transfeindlichkeit-unter-frauen-besorgte-feministinnen/24182500.html

Ein Kummerkastenbrief zum Thema Queerfeindlichkeit
https://queer-lexikon.net/tag/queerfeindlichkeit/

Ein rassismuskritischer Leitfaden
https://www.elina-marmer.com/wp-content/uploads/2015/03/IMAFREDU-Rassismuskritischer-Leiftaden_Web_barrierefrei-NEU.pdf

Der Kopftuchstreit
https://de.wikipedia.org/wiki/Kopftuchstreit

Studie zur Diskriminierung muslimischer Frau auf dem Arbeitsmarkt
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-09/arbeitsmarkt-kopftuch-musliminnen-bewerbung-diskriminierung-studie

Wie queere Menschen diskriminiert werden
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/alltag-von-homosexuellen-wie-queere-menschen-in-berlin-diskriminiert-werden/22810292.html

Minderheitenstress – so ungesund ist unsere Gesellschaft für queere Menschen
https://www.vice.com/de/article/bvgvyw/minderheitenstress-so-ungesund-ist-unsere-gesellschaft-fur-queere-menschen

Jeder vierte Migrant beklagt alltägliche Diskriminierung
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-08/diskriminierung-schulen-universitaeten-migranten

Der Mediendienst Integration über Diskriminierung:
https://mediendienst-integration.de/desintegration/diskriminierung.html