Der Buchmarkt, BookTok-Hypes und KI-generierte Bücher oder: Wo bleiben wir Autor*innen?

Lesezeit: ca. 5 Minuten

Die Anregung zu diesem Blogbeitrag kam durch einen Beitrag, den Judith Vogt auf BlueSky geschrieben hat. Danke dafür und auch für den Austausch.

Seit ich vor zehn Jahren mit Buchveröffentlichungen begonnen habe, hat sich der Buchmarkt im Bereich der Unterhaltungsliteratur, wozu ich auch die Phantastik zähle, sehr verändert. (Generell finde ich die Unterscheidung in E- und U-Literatur fragwürdig, aber das ist ein anderes Thema, dieses Fass mache ich nun hier nicht auf.)

Dieser Bereich des Buchmarkt lässt sich mittlerweile sehr stark von Booktok- und anderen buchigen Social Media-Trends beeinflussen, die sich schnell verändern. Vor wenigen Jahren war Dark Academia populär, heute ist z.B. Romantasy und Dark Romance sehr gefragt, morgen vielleicht etwas ganz anderes. Aber es ist schwer vorherzusagen, welcher neue Trend als nächstes ganz an der Spitze steht, weil die Social-Media-Landschaft so pluralistisch und zersplittert ist.

In einem Beitrag auf Instagram zu meiner Aktion #DiversityDienstag habe ich geschrieben (1): In immer kürzeren Abständen werden neue Bücher auf den Markt geworfen, die dann möglichst schnell konsumiert werden. Nach dem kapitalistischen Motto: mehr, weiter, schneller, Gewinnmaximierung.

Viele Buchbloggende und andere Leser*innen beklagen schon seit längerem, dass die Qualität vieler dieser schnell auf den Markt geworfenen Bücher zu wünschen übrig lässt, selbst aus großen Verlagen. Ich sehe das vor allem im englischsprachigen Raum, aber nicht nur. Oftmals würden z.B. nur bestimmte Tropes checklistenmäßig, aber eher lieblos abgearbeitet. Tropes, die in manchen Verlagsausschreibungen mittlerweile vorgegeben werden.

Dass die Qualität leidet, ist wohl kein Wunder, wenn Autor*innen und andere, die an einer Buchveröffentlichung beteiligt sind, auch Lektor*innen, dazu angehalten werden, in erster Linie schnell zu arbeiten.

Die Flut der KI-generierten Bücher
Mehrere Selfpublishing-Autor*innen berichten, dass ihre Buchverkäufe auf Amazon stark zurückgegangen sind. Dafür mag es viele Gründe geben, und einer davon ist sicherlich die Flut an komplett KI-generierten Büchern auf Amazon, die echten Autor*innen die Sichtbarkeit nehmen. (2)

Und wo bleiben wir Autor*innen?
Autor*innen (und damit meine ich alle, die Bücher ohne KI schreiben), die jetzt im Bereich der Unterhaltungsliteratur durchstarten oder schon länger dabei sind, haben also im wesentlichen zwei Probleme: Wenn sie Selfpublishing machen möchten, müssen sie dabei gegen eine Flut KI-generierter Bücher anschreiben. Wenn sie in Verlagen veröffentlichen wollen, müssen sie damit rechnen, dass viele ihrer kreativen Ideen dort abgelehnt werden, weil sie nicht zu den aktuell gehypten Trends oder Tropes passen.

Ich zitiere noch etwas aus dem schon erwähnten Instagrambeitrag:

Autor*innen sehen sich nun zunehmend dem Druck ausgesetzt, möglichst viele Bücher pro Jahr zu schreiben, damit sie mithalten können mit dieser, ich nenne es mal Fast-Books-Produktion. Gleichzeitig können aber die meisten Autor*innen nicht vom Schreiben leben, müssen sich zwischen Brotjob und Familie oder anderen Verpflichtungen irgendwie arrangieren, damit sie weiterhin Bücher schreiben können. Ich lese hier immer wieder von Autor*innen, die psychisch oder physisch erkrankt sind (z.B. Burnout), weil sie diesem Druck auf Dauer nicht gewachsen sind.

Besonders schwer haben es marginalisierte Autor*innen, weil sie häufig noch weitere Belastungen haben (z.B. Diskriminierungserfahrungen wie täglichen Alltagsrassismus).

Hinzu kommt natürlich noch das Phänomen, dass Autor*innen diejenigen sind, die bei einer Buchveröffentlichung von allen beteiligten Personen am wenigsten verdienen, da nicht ihre Arbeitszeit bezahlt wird, sondern eine Form der Lizenz für ihr Werk.

Und was marginalisierte Autor*innen betrifft, gehe ich davon aus, dass in Zukunft weniger solche Leute veröffentlichen werden – wenn sich die Produktionsbedingungen auf dem Buchmarkt nicht strukturell wirklich verbessern. Und das zeichnet sich zurzeit leider nicht ab, soweit ich es sehen kann.

Und wie ist eigentlich das Verhältnis der vielen veröffentlichten Bücher zu tatsächlich gelesenen? In der Buchbubble sehe ich manchmal unglaubliche Zahlen, wie viele Bücher manche Buchblogger*innen jährlich lesen, teilweise über 150 Bücher.

Also habe ich eine Umfrage auf Tumblr gemacht, an der sich immerhin 373 Leute beteiligt haben. Klar, es ist keine repräsentative Umfrage, aber sie ergibt dennoch eine Tendenz. Die Mehrheit, rund ein Viertel der Beteiligten lesen jährlich nur 11 bis 25 Bücher, gefolgt von rund 21%, die bis zu 52 Bücher lesen.

All of that being said – ich denke, die Menschen, die dafür brennen, Geschichten zu erzählen, Geschichten zu schreiben, werden das auch weiterhin tun, aber vielleicht manche von ihnen auf anderen Wegen.

Geschichten zu erzählen und zu hören ist ein menschliches Grundbedürfnis, weil wir auf diese Weise unsere Welt und unsere menschliche Existenz in einem geschützten Rahmen erforschen können. Und das wird eine KI niemals verstehen, denn diese Systeme wissen nicht aus eigener Erfahrung, was es heißt, ein Mensch zu sein. Stattdessen produzieren (oder halluzinieren, wie manche es nennen) sie gewissermaßen nur aneinandergereihte Buchstaben, die nach Wahrscheinlichkeiten berechnet werden.

Was dieses menschliche Grundbedürfnis betrifft, komme ich immer wieder gern auf ein Zitat von Alan Rickman zurück:
„It’s a human need to be told stories. The more we’re governed by idiots and have no control over our destinies, the more we need to tell stories to each other about who we are, why we are, where we come from, and what might be possible.“

Übersetzung: „Es ist ein menschliches Bedürfnis, Geschichten erzählt zu bekommen. Je mehr wir von Idioten regiert werden und keine Kontrolle über unser Schicksal haben, desto mehr müssen wir uns Geschichten darüber erzählen, wer wir sind, warum wir sind, woher wir kommen, und was möglich sein könnte.“

Was mich betrifft, ich ziehe mich aus mehreren Gründen aus dem Schreiben mit Gewinnabsicht ca. 2027 zurück und werde dann „nur“ noch hobbymäßig schreiben, z.B. Fanfictions (die schreibe ich auch jetzt schon immer mal zwischendurch). Ich würde eigentlich liebend gern weiter als Autor*in mit Veröffentlichungen tätig sein. Ich hatte mal gehofft, das bis ins hohe Alter tun zu können. Aber der hohe Aufwand rund um eine Veröffentlichung lohnt sich für mich schlichtweg nicht mehr, wenn ich mir meine Buchverkäufe ansehe. Außerdem finde ich das hobbymäßige Schreiben, z.B. von Fanfictions, im Vergleich zu den Buchveröffentlichungen wunderbar entspannt.

Fußnoten
(1) Instagram-Beitrag: „Farbschnitte und was das mit Kapitalismus und Produktionsbedingungen zu tun hat“ https://www.instagram.com/p/DPyred4jq_V/
(2) siehe z.B. „Wie KI-Bücher Amazon KDP überfluten und den Buchmarkt verändern“ von Patrick Meier https://buchmarkt.de/patrick-meier-amazon-ki/

„Für eine gute Story?“ – Über Konsens im LARP

CN: Vergewaltigung

Ich spiele seit 14 Jahren LARP, als NSC und SC, überwiegend im Fantasy-Abenteuer-LARP. Gelegentlich habe ich auch Orgas mit Requisiten unterstützt. In den vergangenen Jahren habe ich vielfach Beiträge rund um LARP gelesen.

Kürzlich schrieb eine Bekannte von mir folgendes:
„ (Das erinnert mich daran) wie der LARP-Charakter (meiner Verwandten) einmal vergewaltigt werden sollte. Der Typ begründete es mit: „Für eine bessere Story.“ Und die Spielgruppe, Frauen inkludiert, hat sich auf seine Seite gestellt, sie solle sich nicht so haben.”

Ein solches Verhalten ist nicht in Ordnung. Egal, in welchem Setting. Leute, die so was ernsthaft in Erwägung ziehen („Vergewaltigungen spielen für eine bessere Story“) und kein Nein akzeptieren, haben in diesem Hobby meiner Meinung nach nichts verloren.

Der Betreffende hat offenbar nicht verstanden oder keine Ahnung, dass Rape-Play (im BDSM) auf Konsens basiert und dass das auch fürs LARP gilt. Dass sich dann die ganze Spieler*innengruppe mit drangehängt hat, anstatt das Nein der Spielerin zu akzeptieren, das ist unverzeihlich.

Liebe Larper*innen: Wenn euch in einer Spielsituation eine Person out-time deutlich macht, dass sie etwas nicht spielen möchte, dann akzeptiert das bitte. Und fangt nicht an, darüber zu diskutieren. Akzeptiert es bitte auch, wenn sich Leute aus einer Spielsituation herausziehen. Wenn ihr die Person nicht gut kennt, wisst ihr nicht, was sie mit einer gespielten Situation verbindet. Ihr wisst auch nicht, was sie in ihrem realen Leben für Erfahrungen gemacht hat, z.B. mit sexueller Belästigung, Gewaltandrohungen, Mobbing oder anderen höchst problematischen Verhaltensweisen. Ihr wisst auch nicht, wie psychisch stabil/gesund die Person ist.

Um bei dem Beispiel mit der Vergewaltigung zu bleiben: In der Realität ist so etwas ein traumatisierendes Erlebnis. Das entsprechend auch schwer zu spielen ist für eine Person, die fiktiv vergewaltigt wird. Ja, es gibt Menschen, die Vergewaltigungsfantasien haben und andere, die Rape-Play in einem BDSM-Kontext mögen. Es gibt Menschen, die belastende oder traumatisierende Situationen im LARP spielen können und wollen. Darauf komme ich noch weiter unten. Aber das gilt nicht für alle und kann auf gar keinen Fall als gegeben vorausgesetzt werden.

Generell gilt für alles, was in der Realität traumatisierend wirken kann (z.B. Folter, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung) – fragt die betreffende Person out-time, ob sie einverstanden ist, eine solche Szene zu spielen. Man kann immer kurz ins Out-Time wechseln, es dauert ja nur wenige Sekunden, eine entsprechende Frage zu stellen.
Und hinzu kommt noch etwas anderes: Das Spiel ist meistens mit einer solchen Szene nicht beendet. Aber die wenigsten Personen können vermutlich eine sexuell traumatisierte Person glaubwürdig verkörpern. Und wenn sie das nicht tun, wirkt es auf tatsächlich Betroffene möglicherweise sehr unangenehm, zu sehen, wie leichtfertig die Figur IT mit der Vergewaltigung umgeht.

Und akzeptiert ein Nein ohne Wenn und Aber. Nein heißt Nein. Das gilt auch im LARP, auch für fiktive Spielsituationen.

Manche von euch werden nun sicherlich einwerfen, Krieg und Kämpfe können doch auch traumatisierend sein in der Realität, und werden im LARP trotzdem nicht weiter abgesprochen. Allerdings gelten im LARP klare Regeln für Kämpfe. (Und ja, auch da kann leider einiges schiefgehen, wenn z.B. Schwerthiebe voll durchgezogen werden oder Treffer an Stellen landen, die eigentlich verboten sind.)

Wer sich in LARP-Kämpfe begibt, weiß in der Regel, worauf er*sie sich einlässt. Auf vielen LARPs ist es die Regel, das Menschen, die bereit sind für in-fights, also stärker ausgespielte Kämpfe oder auch Szenen mit Prügeleien, eine entsprechende Markierung sichtbar tragen, z.B. ein farbiges Band. Auch kann man auf vielen LARPs, wenn man z.B. aus gesundheitlichen Gründen, Behinderung, Schwangerschaft u.a. nicht in Kämpfe verwickelt werden will, um eine entsprechende Kenntlichmachung bitten.

Konsens ist der Schlüssel zu einem positiven Spielerlebnis. Das gilt für alle Settings.

Es gibt bewusst harte, z.B. im Horror-Bereich, wo im Vorfeld vieles abgeklärt wird, wo die SL zum Beispiel Safety Words und anderen Safety Tools anbietet. Es wird also bereits vorher deutlich gemacht, was auf einen zukommen kann, ohne dass die eigentliche Handlung gespoilert wird. Auch Fragen in punkto Konsens werden dort im Vorfeld besprochen. Es gibt nicht selten auch spezielle OT-Räume, in die man sich zurückziehen kann. Oder auch intensive Gespräche nach dem Out-time, die erlauben, das Erlebte zu reflektieren und zu verarbeiten.

Eine solche Heransgehensweise ist aus meiner Sicht vorbildhaft. Denn auch in anderen Settings können Ideen zu Spielszenarien auftauchen, die eine starke Belastung darstellen können.

Im LARP gibt es für physische Gefahren Sicherheitsvorkehrungen. Zum Beispiel: Kämpfen nur ohne Alkoholeinfluss. Nächtliche Kämpfen nur in ausgeleuchteten Bereichen. Den sofortigen und nicht diskutierten Spielstopp in einer Out-Time Gefahrensituation. Safety Tools wie Safewords können auch psychischen Gefahren vorbeugen.

Auf manchen Cons gibt es z.B. auch bestimmte im Vorfeld vereinbarte Sätze, die anderen Spieler*innen verdeutlichen, „ich ziehe mich aus dieser Spielsituation zurück”, „diese Spielsituation überfordert mich” oder ähnliches.

Denkt bitte daran: LARP ist ein Hobby und es soll nicht nur euch, sondern auch anderen Freude machen.

Ihr spielt nicht für euch allein, sondern mit und für die anderen. Dinge, die in-time geschehen, sind zwar fiktiv. Aber Fiktion im LARP kann schnell ins Out-Time, ins wahre Leben übergreifen (das wird auch „bleed” genannt) Weil die Gefühle, die man spielt, von einem selbst nun mal empfunden werden. Und nicht jede Person kann immer klar und in jeder Situation die Gefühle des gespielten Charakters vom eigenen Ich trennen. Manchen Leute sprechen dann von einem „IT/OT-Problem”, vielleicht habt ihr das schon mal gehört. Bitte denkt bei belastenden Spielsituationen daran. Die Spieler*innen sind immer wichtiger als das Spiel.

Ich habe immer mal wieder von (Film-)Schauspieler*innen gehört, die anstrengende Rollen spielten, die an die Substanz gingen und wie sehr das manche mitnahm. Das gilt übrigens nicht nur für Method Actors oder für Schauspieler*innen, die für Rollen stark zu- oder abnehmen oder sich anderweitig optisch stark verändern. Die Schauspielerin Jessica Chastain brauchte, nachdem sie eine mörderische, psychisch kranke Frau in einem Horrorfilm spielte, eine Auszeit von Schauspiel. Heath Ledger berichtete in Interviews davon, wie sehr ihn die Rolle des Jokers in „The Dark Knight” belastete. Das sind nur zwei Beispiele.

Profi-Schauspieler*innen haben den Vorteil, dass ihre Rolle durch Text und Regieanweisungen ziemlich stark vorgegeben ist und dass sie diese in einem geschützten Rahmen (Theaterbühne, Filmset) darstellen. Sie können die Rolle in Pausen und abends ablegen. Ein bisschen ähnlich ist es mit NSCs im LARP.
Für Scs sieht es dagegen oft anders aus: Man ist viele Stunden lang, bis in die Nacht hinein oder sogar die Nacht hindurch, oft ohne Pause, in der Rolle. Beziehungsweise, dass sich Pausen oftmals auf einen kurzen Gang zum WC beschränken (und dass dieser Weg zum WC mitunter aus Spielgründen nicht möglich ist oder in-time gefährlich). Je nach Setting kann es auch sein, dass man zu wenig trinkt oder nicht zum Essen kommt, weil gerade wieder mal eine Welle Gegner hereinrollt.

Entsprechend ist LARP auch Stress – in der Regel ist es ein positiver („Eu-Stress”), aber wenn man dazu genötigt wird, ohne Konsens etwas sehr Belastendes zu spielen, dann wird aus diesem positiven Stress ganz schnell ein negativer, destruktiver. An dieser Stelle wiederhole ich noch einmal: LARP ist ein Hobby, das von sozialer Interaktion lebt. Eine Freizeitbeschäftigung. Und: Die Spieler*innen sind immer wichtiger als eine „gute Story”.

Und davon mal abgesehen hier noch etwas anderes: Um noch mal auf das Thema Vergewaltigung zurückzukommen, das angeblich im Spiel für eine bessere Story gesorgt hätte. Auch Grimdark-Mittelalter-Fantasy-Geschichten werden durch Vergewaltigungen nicht automatisch besser. Unter Autor*innen der Phantastik gilt das Schreiben von häufigen Vergewaltigungen übrigens oft als „faules Schreiben” – man braucht eine dramatische Szene? Ist schnell geschrieben, so eine Vergewaltigung. Man braucht ein düsteres Geheimnis, ein Trauma in der Biografie einer Protagonistin? Rückblende: Sie wurde vergewaltigt.

Dieser englischsprachige Artikel zeigt, was man anstelle von Vergewaltigungen als Plot Device alles nutzen kann. Vielleicht ist das eine oder andere ja auch eine Inspiration fürs LARP:

„Du kommst hier nicht rein!“ – Gatekeeping in Hobbys

Abbildung: Lothar Dieterich, Creative Commons Lizenz

Ich möchte heute ein bisschen über Hobbies, schreiben z.B. Cosplay. Larp. Steampunk. Fandoms. Games. Wer als enthusiatischer Newbie neu in eine entsprechende Community einsteigt, wird früher oder später auf die Gatekeeper stoßen. Der Begriff leitet sich u.a. ab von jener mystisch-mythologischen Torwächterin, die Reisenden Rätsel oder Aufgaben stellt, ehe sie den Weg (vielleicht) freigibt.

Wikipedia schreibt über Gatekeeper im Bereich der Nachrichtenforschung:
„Als Gatekeeper (deutsch: Torwächter, Schleusenwärter oder Türsteher) bezeichnet man in den Sozialwissenschaften metaphorisch einen (meist personellen) Einflussfaktor, der eine wichtige Position bei einem Entscheidungsfindungsprozess einnimmt. ”

Gatekeeper, das sind Leute, die das Hobby schon seit Annodazumal betreiben oder schon seit Urzeiten im Fandom sind und die als selbsternannte Expert*innen genau wissen, wie es geht, was nicht geht, was „man darf”, was nicht und so weiter. Und die auch ungefragt anderen Leuten ihre Meinung aufdrängen, wie sie ihr Hobby zu betreiben haben oder wie sie ihr Fansein ausleben sollten.

Vielen Hobbyist*innen ist eines gemeinsam: Ihre einzige Gemeinsamkeit ist das Hobby. Darüber hinaus können sie als Menschen sehr, sehr unterschiedlich sein und dank Internet auch quer über den Globus verteilt sein. Sie haben unterschiedliche politische Ansichten und Weltanschauungen, verschiedene Glaubenszugehörigkeiten (oder auch keine), sind straight oder queer, cis oder trans, weiß oder Schwarz, People of Color, sind wohlhabend oder eher weniger, haben Kinder oder auch nicht, sind Single oder in Beziehungen und so weiter.
Und so verschieden, wie sie im Alltagsleben sind, so verschieden sind auch die Heransgehensweisen der einzelnen Individuen an ihr Hobby.

Nicht jede Person, die ein Hobby betreibt, erhebt dies zum Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens.

Nicht jede Person verbringt Stunden und Tage damit, Kostüme zu nähen, Accessoires und Requisiten zu gestalten, nicht jede spielt jeden Tag ihre Lieblingsgames rauf und runter oder besucht Game-Conventions. Nicht jeder Mensch verbringt täglich Zeit in Online-Fandom-Foren oder hat die Zeit oder das Talent, um Fanart zu gestalten oder Fanfictions zu schreiben oder zu lesen. Nicht jede Person reist mehrfach jährlich zu vielen Veranstaltungen (z.B. am Wochenende), die mit dem Hobby zu tun haben.

Gatekeeper erwecken allerdings gern den Eindruck, all das sei aber zwingend notwendig, weil man ja sonst das Hobby nicht ernsthaft betreibe.

Gatekeeper maßen sich auch gern die Deutungshoheit darüber an, was ein gelungenes Outfit ist und was nicht – besonders wichtig bei Cosplay, Larp, Steampunk. In der deutschsprachigen Steampunk Community wird immer wieder darüber diskutiert – ist das Steampunk? Was ist Steampunk? Ist mein gekauftes Kleid, weil ich nicht nähen kann, Steampunk? Sind die aufgeklebten Zahnräder und die Goggles Steampunk, oder muss das alles auch eine Funktion haben, wie manche Geräte von Steampunk-Makern? Wie historisierend muss Steampunk sein? Muss er das überhaupt sein? Und wie ist es eigentlich mit Überschneidungen zu Cyberpunk, Gothic, Science-Fiction und anderen?

Gatekeeper reißen auch hier gern die Deutungshoheit an sich: So, wie sie Steampunk sehen, so ist es und nicht anders. Es gab mal eine Social Media Gruppe mit dem Namen „Ich mag meinen Steampunk undefiniert” und auch das Gegenstück dazu, „Ich mag meinen Steampunk definiert” existierte.

Genau das ist das Lieblingshobby der Gatekeeper: Sie definieren, was das Hobby ausmacht. Sie sind die selbsternannten Expertinnen.

Und vergessen gern darüber eines: Dass es hier nicht um eine exakte Wissenschaft geht. Auch nicht um geschichtliche Fakten oder um ein möglichst authentisches Reenactment. Ein Hobby ist ein Hobby ist ein Hobby. Es soll Spaß machen. Auch wenn dieser Spaß für unterschiedliche Leute nicht exakt gleich aussieht. Weil Menschen nun mal unterschiedlich sind. Auch die Geschmäcker sind verschieden. Was dir im Hobby Spaß macht, das ist vielleicht nichts für mich. Und was mir gefällt, damit kannst du vielleicht nichts anfangen. Trotzdem ist es für uns beide ein Hobby.

Mittels (erfolgreichem) Gatekeeping wird aus eine Gruppe von Hobbyist*innen allerdings schnell ein elitärer Club, der nur andere Mitglieder akzeptiert, wenn sie das Gatekeeping und die damit verbundenen, selbst auferlegten Normen verinnerlicht haben.

Im Cosplay-Bereich sagen einem manchen Gatekeeper, richtiges Cosplay setze immer eine Eins-zu-Eins-Umsetzung von Kostümen voraus und am besten eine besondere hohe persönliche Ähnlichkeit mit dem dargestellten Charakter. Wer in dieses enge Bild nicht hineinpasst, aufgrund von Hautfarbe, Haarfarbe, Körpertyp oder gar Behinderungen und ähnliches, oder wer einfach schlichtweg nicht den Geldbeutel hat, um ein perfektes Cosplay sein Eigen zu nennen, dem werden Gatekeeper möglicherweise die Freude an diesem Hobby schnell vermiesen. Neulich las ich außerdem ein Interview, dass sich mit Mobbing im Cosplay beschäftigt, was teilweise auch wieder mit Gatekeeping-Haltungen zu tun hat:
https://www.teilzeithelden.de/2020/01/08/interview-eine-kampagne-gegen-mobbing-im-cosplay/

Im Gaming kenne ich mich persönlich nicht aus, aber ich habe einiges durch meinen Bekanntenkreis gehört. Auch hier gibt es Gatekeeper, die schon seit Annodazumal gamen und zum Beispiel alles, wirklich alles über Spiel XYZ wissen. Anfänger*innen werden da schon mal belächelt, oft auch ob der Wahl ihrer Spiele, manche von ihnen dürfen sich Mansplaining anhören und können froh sein, wenn sie überhaupt in der Gamingcommunity akzeptiert werden. Zu diesem Thema hat Aurelia in ihrem Blog Geekgeflüster vieles geschrieben:
https://geekgefluester.de/category/alle-themen/gaming

Zum Beispiel hier: https://geekgefluester.de/von-gamer-girls-romance-und-internalisierter-misogynie

Ich kenne einige Leute, die in Fandoms unterwegs sind und die sich aus entsprechenden Social Media Gruppen komplett zurückgezogen haben, weil sie den Umgang der Gruppenmitglieder untereinander als toxisch empfunden haben. Ob das dann auch mit Gatekeeping zu tun hatte, mag sein, aber in dem Bereich fehlen mir die entsprechenden Erfahrungen, deshalb kann ich dazu wenig sagen. Ich habe allerdings einen englischsprachigen Text von Rachael Lefler gefunden, der teilweise nahelegt, dass auch hier Gatekeeping eine Rolle spielt:
https://reelrundown.com/misc/5-Factors-that-Can-Cause-Toxic-Fandom-to-Arise

Ein Zitat daraus (von mir übersetzt):

„Es gibt dieses Gefühl von Überlegenheit. Toxische Fans können sich gegenüber anderen Fans, die weniger intensiv/obsessiv sind und oft als „Casuals” bezeichnet werden, überlegen fühlen. Wehe, wenn du ein Shirt von einer Serie trägst, aber nicht obsessiv über diese Serie nachdenkst. (…) Toxische Fankultur entwickelt sich in einem Bereich, der als Internet Echokammer bekannt ist. Eine Echokammer ist ein Raum (oft in Internet-Foren oder Social Media Gruppen), in dem widersprechende Meinungen nicht geduldet werden. Das bedeutet, die Gruppe hat eine konformistische, herdenartige Mentalität. Alles was sie sagen und tun, füttert ihre Vorlieben und ihre Voreingenommenheit gegenüber Outsidern. Wenn eine Außenseiterin hereinkommt und versehentlich einen Fauxpas in einer solchen Gruppe begeht, wird sie in der Regel unhöflich darüber aufgeklärt oder sogar einfach aus der Gruppe verbannt.
Das heizt den oftmals fast kultischen Fanatismus toxischer Fans an. Es empowert sie und ermutigt sie, denn sie fühlen sich als große Gruppe an Leuten, die mit ihren Ansichten übereinstimmen. Und egal wie klein diese Ansichten innerhalb eines Fandoms sind, wird man darin Nischen finden mit Menschen, die derselben Ansicht sind.”

Im LARP gibt es in Social Media Gruppen und Foren, in denen man seine Outfits (im LARP „Gewandung” genannt) vorstellen oder auch Fragen rund um die Gestaltung stellen kann. Und auch da stehen oft die Gatekeeper ganz schnell vor dem virtuellen Tor und erklären auch enthusiatischen Newbies gern ungefragt, was sie alles mit ihrer Gewandung verkehrt machen und wie sie es gefälligst besser machen (mit dem Subtext: „Wenn das nicht besser wird, wirst du hier bei uns nicht als ernsthafte LARPer*in akzeptiert“). Mit anderen Worten: Hier wird, ähnlich wie im Cosplay und Steampunk, nicht selten Costume-Shaming betrieben.

Gatekeepern ist dabei meistens auch egal, ob die betreffende Person vielleicht gar nicht nähen kann, nicht die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten hat, sich ein (hochwertiges, aber teures) Outfit zu leisten oder ähnliche Schwierigkeiten bestehen.

LARP ist übrigens tendenziell ein teures Hobby, denn nicht nur Outfits, Requisiten, Accessoires, sondern in vielen Fällen auch eine Camping-Ausstattung mit Zelt und natürlich die Con-Gebühr sowie die Anreise wollen finanziert werden. In vielen Fällen ist es schwierig, ohne eigenes Auto überhaupt anzureisen, da entsprechende Veranstaltungen meistens auf dem Land bzw. eher an abgelegenen Orten stattfinden. Es gibt zwar auch LARP-Formen, die den Einstieg einfacher machen, auch kann man quasi als Nichtspieler*incharakter, (abgekürzt NSC) auf Cons fahren, aber grundsätzlich sind die Hürden für Neueinsteiger*innen nicht gerade niedrig.

Ich war längere Zeit Admin in einigen Gruppen bei Facebook, darunter auch Hobbygruppen zu LARP und Steampunk. Immer wieder fragen dort Neueinsteigerinnen nach Tipps für den Anfang. Dahinter steckt natürlich zum einen Neugier, zum anderen aber vielleicht auch die Angst, etwas falsch zu machen, anzuecken, weil man das Hobby nicht „richtig” betreibt.

Aber wer bestimmt das denn bitte schön? In den Social Media bestimmen es die Gatekeeper, die am lautesten sind. Oder zumindest versuchen sie es, indem sie Neulinge mitunter solange in Diskussionen zutexten, bis diese mit dem metaphorischen Rücken zur Wand stehen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Interessierte sich enttäuscht aus einem Hobby zurückgezogen haben, weil sie an solche Gatekeeper geraten sind.

Deshalb möchte ich gern zu folgendem aufrufen:
Auch wenn du ein Hobby schon seit Annodazumal betreibst, überlege dir bitte gut, ob du Neulingen wirklich ungebetene Ratschläge geben möchtest. Erinnere dich bitte einmal daran, wie du selbst in das Hobby oder Fandom eingestiegen bist.

Frag Einsteigerinnen bitte erst mal, ob sie deinen Rat hören möchten, oder nicht. Und wenn nicht, das akzeptiere das bitte. Vielleicht haben sie auch einfach gerade keine Zeit für eine längere Diskussion.

Akzeptiere bitte, dass Menschen Hobbies unterschiedlich betreiben, je nach ihren Möglichkeiten und ja, auch nach Lust und Laune. Das gilt auch für Fandoms.
Du musst dich ja nicht mit jeder Person beschäftigen, die zufällig dasselbe Hobby hat wie du oder die im selben Fandom ist.

Und wenn dir etwas Kritisches gegenüber anderen auf der Zunge liegt, denk bitte daran: Hobbys sind Freizeitbeschäftigungen, die Spaß und Erholung bieten sollen. Für dich und für andere.

Und wenn du trotzdem allem Kritik anbringen möchtest, dann bitte konstruktiv, so dass
die Kritisierte etwas damit anfangen kann. Damit hilfst du der Person sicher mehr, als z.B. mit einem „Dein Outfit ist sch***ße!“

Denk bitte inklusiv: Alle dürfen mitmachen. Nicht nur die mit langjährigen Erfahrungen, sondern auch diejenigen, die gerade erst anfangen. Auch diejenigen, die nur hin und wieder das Hobby betreiben. Auch diejenigen, die aufgrund von Aussehen, Körpertyp, Behinderungen nicht in die gängigen Schönheitsnormen passen. Oder um es ganz allgemein zu sagen: Auch diejenigen, die anders sind als du.

Mit Gatekeeping in Medien und der Rollenspielcommunity befasst sich auch eine Episode des Genderswapped Podcast:
https://genderswapped-podcast.podigee.io/35-episode-26

Sehenswertes Video auf YouTube: „Feedbackkultur am Arsch? Das 2. GESICHT vom LARP / Ninas LARP Guide“
https://www.youtube.com/watch?v=4pTLXc31YBY